Vorstellung am 20.4.2017
Erstaufführung dieser sehr selten gespielten Märchenoper
Dmitri Tcherniakov ist einer der zur Zeit meist beachteten Opernregisseure in Europa und kann sich inzwischen die Werke auswählen. Nachdem er sich in Paris, Lyon, Madrid, Brüssel, Berlin und München einen Namen gemacht hat mit sehr eigenwilligen – und meist auch sehr interessanten – Neudeutungen bekannter Werke, startete er einen großen Zyklus russischer Opern, über den im Merker schon öfters berichtet wurde. So waren wir im März in Amsterdam für seine viel beachtete Inszenierung von „Fürst Igor“ von Alexander Borodin, die vor zwei Jahren in New York in Premiere ging (und damals auch in Wien im Kino zu sehen war). In Amsterdam hatte er schon „Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und der Jungfrau Fewronia“ von Nikolai Rimski-Korsakow inszeniert. Nun wird der Zyklus in Paris fortgesetzt mit dem ebenso selten gespielten „Schneeflöckchen“.
„Schneeflöckchen“ (1882) ist eine Märchenoper wie „Mainacht“ (1880), „Die Nacht vor Weihnachten“ (1895), „Das Märchen vom Zaren Saltan“ (1900) und „Der goldene Hahn“ (1909), die letzte und meist gespielte Oper von Nikolai Rimski-Korsakow. Alle seine fünfzehn Opern greifen ganz bewusst zurück auf die russische Folklore, denn die „Gruppe der Fünf“ (auch „das mächtige Häuflein“ genannt), bestehend aus den „Novatoren“ Mili Balakirew, Alexander Borodin, Cesar Cui, Modest Mussorgski und Nikolai Rimski-Korsakow, wollte als Gegen-Ansatz zum „westlich dekadenten Tschaikowski“ russische Nationalopern mit Rückgriff auf die russische Geschichte schreiben. So könnte man „Vater Frost“, den Vater der Titelfigur „Schneeflöckchen“, mit unserem westlichen „Weihnachtsmann“ vergleichen, der sich in „Frau Frühling“ verliebt und mit ihr ein kleines Töchterchen bekommt: so zart und rein wie unser „Schneewittchen“…
Doch der 1970 in Moskau geborene Tcherniakov liebt es die Russische Geschichte mit dem heutigen Russland zu verflechten und so inszenierte er auch diese Märchenoper mit Bier trinkenden Proleten, Sex und viel Gewalt. Das Konzept geht nicht auf und es stellte sich etwas ein, was wir bei Tcherniakov noch nie erlebt haben: Langeweile. Erst im vierten Akt, in der Szene als Schneeflöckchen alleine mit ihrer Mutter durch den Zauberwald läuft, gab es „Bühnenzauber“. Doch da hatte schon ein beträchtlicher Teil des nicht besonders disziplinierten Pariser Publikums seufzend den Saal verlassen. Dass der Abend so furchtbar lang wirkte (es waren „nur“ vier Stunden, so wie viele Russische Opern), lag auch am Dirigenten. Die Gestik von Mikhail Tatarnikov war elegisch, aber offensichtlich zu „märchenhaft“ um durch das Orchester und den Chor der Opéra de Paris gut verstanden zu werden. So drosselten die Musiker eigenwillig das Tempo und einiges ging daneben. Nur in seltenen Momenten – in langen Arien oder als der Chor ganz alleine sang – klappte alles und konnte man ungestört die teilweise wunderschöne Musik genießen.
Unter diesen Bedingungen hatten die Sänger, die sich in den meist sehr hässlichen Kostümen von Elena Zaytseva sicher nicht wohl fühlten, keinen leichten Stand. Aida Garifullina, Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper seit 2013, muss man im Merker nicht mehr vorstellen. Aber in Paris ist sie so gut wie unbekannt. Von der Erscheinung her klein und zierlich mit einer fast metallisch reinen Stimme, scheint sie eine Idealbesetzung als Schneeflöckchen. Doch im großen Saal der Opéra Bastille, zwischen einem zu laut spielenden Orchester und einem manchmal brüllenden Chor, wirkte ihre Stimme leider farblos und eindimensional. Auch Martina Serafin, in Paris als überzeugende Tosca und Sieglinde bekannt, hatte als Koupova keinen leichten Stand. Die große Überraschung war Yuriy Mynenko als Lel. Die Rolle des schönen Hirten, in den sich alle verlieben, wird meist durch Mezzosporanos gesungen. Doch der Regisseur bestand auf einen Mann und fand in dem ukrainischen Counter-Tenor einen unerwartet guten Interpreten. Erst war man etwas erstaunt, als dieser bärtige Muskelprotz mit seinem hohen Stimmchen kam. Doch irgendwie passte es zur Affektiertheit (fast Weiblichkeit) der Figur und Mynenko zeigte sich als mannhafter Sänger (seine Stimme kam problemlos durch den großen Saal) und als reifer Interpret. Seine beiden Arien, die wir aus den Konzerten seiner weiblichen Kollegen kennen, waren der musikalische Höhepunkt des Abends.
Der Rest der Besetzung hinkte wörtlich etwas hinterher (was hauptsächlich am Regisseur und Dirigenten lag). Der Ukrainer Maxim Peter sprang in letzter Minute als Zar Berendei für den erkrankten Ramon Vargas ein und Thomas Johannes Mayer – den wir schon besser gehört haben – war ein farbloser Mizguir. Nur Elena Manistina und Vladimir Ognovenko konnten als Frau Frühling und Vater Frost von der Rampe vollkommen mühelos über das Orchester „kommen“. Der Einzige, dem das auch gelang, war der Heerrufer Pierpaolo Palloni. Denn der Regisseur hatte ihm ein riesiges Sprachrohr gegeben, mit dem der spielfreudige Chorist seine warme Bariton-Stimme mit Wonne in den großen Saal schleuderte.
Wir freuen uns sehr, dass „Schneeflöckchen“ nun zum ersten Mal an der Opéra de Paris aufgeführt wurde. Doch wenn Dmitri Tcherniakov wirklich will, dass diese selten gespielten Russischen Opern nun „international genau so bekannte Werke werden wie „Don Giovanni“ oder „La Traviata“ “ – so wie er es großspurig im Programmheft verkündet -, dann wird er diese Märchenopern doch anders inszenieren müssen. Denn nach diesem langweiligen Abend kann ich mir nicht vorstellen, dass ein anderes Haus diese Produktion übernimmt oder dass sie irgendwann noch einmal an der Opéra de Paris wieder aufgenommen wird. Schade, denn die Musik ist wirklich wunderbar!
Bilder (c) Elisa Haberer / OnP
Waldemar Kamer, Paris 24.4.2017
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