Aufführung am 30.3.2019
Eine wunderbar witzige Wiederentdeckung eines verschollenen Juwels: seit 125 Jahren nicht mehr in Paris gespielt!
Die Opernwelt geht manchmal seltsam mit ihren früheren Stars um: von den 72 Opern, Operetten und Vaudevilles von Adolphe Adam (1803-56) hat sich keine einzige auf den Spielplänen halten können, wo man jedoch jedes Jahr zwei von seinen zwölf Balletten findet: „Giselle“ und „Le Corsaire“. Adam wird wohl in den meisten Opern- und Operettenführern erwähnt, jedoch nur in einer Fußnote als ein „damals sehr bedeutender Komponist“. Wie bedeutend er war, erkennt man sofort in dem exzellenten Programmheft der Opéra Comique, in dem die hochkompetente Dramaturgin der Oper Agnès Terrier von Adams Erfolgen nicht nur in Paris, sondern auch in London, Berlin, Sankt Petersburg und Wien berichtet. „Le Postillon de Lonjumeau“ wurde schon im Jahr nach seiner Uraufführung 1836 an der Opéra Comique in 15 Hauptstädten Europas aufgeführt, erreichte 1840 Nord- und Südamerika und wurde sofort in 10 Sprachen übersetzt. Auch in Wien wurde „Der Postillon von Lonjumeau“ gerne und oft gespielt, denn die damalige Hofoper hatte 7 Opern und 6 Ballette von Adam im Repertoire, die auch noch an 7 anderen Theatern in Wien gespielt wurden. „Der Postillon“, der dem König von Preußen gewidmet war, war in Deutschland besonders populär, sodass die Partitur in 100 Jahren mehr als 30-mal verlegt wurde und der Tenor Theodor Wachtel die Rolle 1868 schon zum 1000. Mal sang. Anscheinend auch in Riga, wo ein junger Dirigent namens Richard Wagner so viel Vergnügen am „Postillon“ hatte, dass er 40 Jahre später, als er wegen des ganzen Stresses bei den Bayreuther Festspielen nachts nicht schlafen konnte, immer wieder diese eine Arie sang (sowie es Cosima 1878 in ihrem Tagebuch vermerkt).
Doch so schnell sein Stern im 19. Jahrhundert gestiegen war, fiel er wieder im 20en. Nach 1894 wurde „Le Postillon de Lonjumeau“ nicht mehr an der Opéra Comique gespielt und in Wien war die letzte Vorstellung anscheinend 1908 an der Volksoper. Der einzige Mensch, der mir von einer erlebten Vorstellung berichten konnte, ist unsere Merker-Chefredakteurin Sieglinde Pfabigan, die sich noch genau an eine Vorstellung 1956 in Linz erinnert: „an einen sehr vergnüglichen und Melodienreichen Abend, wo der damalige Hohes-C Tenor Hans Krotthammer auch noch ein herrliches hohes D sang“.
Dieses berühmte hohe D kann man nun wieder hören in einer eklatanten Produktion an der Opéra Comique, an der anscheinend mehr als 10 Jahre gearbeitet wurde. Denn solche Wiederentdeckungen haben nur Sinn – und dann auch wirklich Erfolg – wenn man das Werk stilgerecht aufführt. Und dafür braucht man nicht nur einen guten Hohen-D-Tenor, sondern auch einen Dirigenten, der diese Musik kennt und einen Regisseur, der mit einer opéra comique mit gesprochenen Dialogen wirklich etwas anfangen kann. So ein Team stand nun auf der Bühne und wir waren alle begeistert: das Werk entfaltete all seine gute Laune, seine feinen Nuancen und seinen besonderen Witz, dem man als Opernliebhaber nicht widerstehen kann.
Denn „Le Postillon de Lonjumeau“ ist eine Parodie der Oper, ausgehend von der Lebensgeschichte des legendären Tenors Pierre Jélyotte (1713-1797), für den Jean-Philippe Rameau (fast) alle seine großen Rollen komponiert hat, auch Abaris in den unlängst rezensierten „Les Boréades“ in Dijon. Der aus einem Bergdörfchen in den Pyrenäen stammende Jélyotte wurde in einem Kirchenchor in Toulouse durch den Prinzen von Carignan „entdeckt“, der den Landjungen mit nach Paris nahm, wo er der Sänger-Star der Pariser Oper wurde und ein Liebling am Hof. Jélyotte, auch ein begnadeter Komponist, begleitete zum Beispiel den kleinen Mozart auf der Gitarre als dieser in Versailles auftreten durfte. Was er auch tat, „alle Frauen waren wild nach ihm“ so wie es Marmontel in seinen Memoiren beschreibt. Adam schrieb die Rolle für den damaligen Startenor der Opéra Comique Jean-Baptiste Chollet, der sich als renommierter Frauenheld zum Zeitpunkt der Uraufführung zusätzlich auch noch von seiner Gattin, der großen Sängerin Zoé Prévost trennte – was diese Sänger- und Doppelehegeschichte noch pikanter machte, da beide auf der Bühne standen.
„Der Postillon von Lonjumeau“ ist ein schöner Kutscher mit einer noch schöneren Stimme, der seine arme Frau ohne viel Gewissensbisse in der Hochzeitsnacht verlässt, um Sänger an der Pariser Oper zu werden und in die Hofkreise eingeführt zu werden. Dort begegnet er zehn Jahre später einer vermögenden Gräfin, die ihn sogar heiraten will. Doch in der Hochzeitsnacht entpuppt diese sich als seine früher verlassene Frau, die einen Racheplan vorbereitet hat, sowie man ihn nur am Hof von Ludwigs dem XV. und Madame de Pompadour ausdenken konnte. Theater im Theater also, mit eingebildeten Tenören, heulenden Sopranen, streikenden Chören und nervösen Operndirektoren – einfach ein Genuss!
Die Musik von „Le Postillon de Lonjumeau“ – von dem es zum Glück einige Aufnahmen gibt – ist ganz anders als die symphonischen Ballette Adams, die Tschaikowsky zu seinen großen Handlungsballetten inspiriert haben. Es ist eine leichte Musik, im Sinne von Hérold, Boieldieu, Auber und Halévy, von denen wir schon einige opéras comiques rezensiert haben. Nur – wegen des Sujets – mit vielen Anleihen an die französische Musik des 18. Jahrhunderts, worunter zwei Opern von Rameau und Grétry, die im „Postillon“ aufgeführt werden. Sébastien Rouland, jetzt GMD in Saarbrücken, ist der ideale Dirigent für dieses Werk. Er weiß mit dieser Musik subtil umzugehen, gibt jeder Reprise eine andere Farbe – es gab nicht einen einzigen Strich in Wort und Ton – und weiß dem Orchester und Chor der Opéra de Rouen Normandie nicht nur „raffinement“, sondern auch „esprit“ (Witz) und Spielfreude ein zu flössen. Einfach herrlich und erfrischend. Michel Fau steht ihm als kongenialer, witziger und einfallsreicher Regisseur zur Seite. Fau ist ursprünglich Schauspieler und Theaterregisseur und weiß aus jeder noch so kleinen Sprechszene ein Maximum heraus zu holen. Jede Figur ist genau charakterisiert und auch wenn fast gar nichts passiert und Fau als Hofdame Rose in einem riesigen rosa Kleid stumm ins Publikum guckt, kann dieses sich vor Lachen kaum halten. Bevor der erste Ton gesungen war, war diese Premiere schon ein Erfolg.
Was nach den Arien des Tenors an Beifallsstürmen erklang, lässt sich kaum beschreiben. Michael Spyres ist ein hinreißender Postillon Chapelou / Opernsänger Saint-Phar, voller Witz und Spielfreude, auch in den gesprochenen Dialogen. Er hat als leichter Rossini-Tenor keine einzige Mühe mit dem hohen D, dass er auf dem Promotionsvideo der Oper (im Internet zu sehen) unzählige Male wiederholt – in Bruststimme anstelle der ursprünglich vorgesehenen „voix mixte“. Und weil das Publikum so tobte, stieg er am Premierenabend auch noch weiterhin auf zum hohen E und (fast) zum hohen F. Bald wird er an der Wiener Staatsoper debütieren! Florie Valiquette war als ebenso fulminanter Koloratursopran eine ihm absolut ebenbürtige Partnerin als verlassene Gattin Madeleine / rachsüchtige Madame de Latour (in der Schlussszene musste sie gleichzeitig beide Frauen mit zwei verschiedenen Stimmen und Kostümen spielen). Franck Leguérinel, ein oft und gern gesehener Gast an der Opéra Comique, war perfekt als Hofintendant, Operndirektor und Frauenheld Marquis de Corcy und Laurent Kubla als Hufschmied Biju, der zum Sänger Alcindor mutiert. Das gilt auch für Julien Clément als Bourdon und Yannis Ezziadi als Louis XV. Last but not least die Kostüme von Christian Lacroix, die auf den Fotos vielleicht etwas grell wirken können in den gekonnt „parodierten“ Bühnenbildern von Emmanuel Charles: jedes Kostüm war anders, kein Chorist sah gleich aus. Das war wirklich „haute couture“! Das Premierenpublikum tobte, die Presse jubelt und niemand kann verstehen, warum diese witzige Oper mit diesen Arien, die einem wie ein „Ohrwurm“ im Gedächtnis bleiben (und wahrscheinlich nicht nur bei Richard Wagner), seit 125 Jahren nicht mehr in Paris gespielt wurde. Das wird sich hoffentlich nun ändern, Dank sei dieser exzellenten Produktion, die hoffentlich noch an vielen Theatern nachgespielt werden wird. Wir sind gespannt! Waldemar Kamer
Waldemar Kamer 1.4.2019
Fotos: (c) Stefan Brion