Markgräfliches Opernhaus, 2.9.2021
Kaum ist eine Woche vergangen, beginnt schon das zweite erstklassige Festival in der kleinen Stadt. Bayreuth Baroque etablierte sich 2020 mit einer fantastisch guten Opernaufführung und mehreren exzellenten Konzertabenden, nun begann die zweite Ausgabe des einzigen Festivals, das im Markgräflichen Opernhaus, dieser einzigartigen Schatzkiste, sinnvoll (und nötig!) ist, mit einer Wiederaufnahme von Porporas Carlo il Calvo. Gleich nachgeschoben: Musik aus der Zeit der Markgräfin Wilhelmine (und, was auch an diesem Abend nicht besonders erwähnt wird) des Markgrafen Friedrich, der die Kunstprojekte seiner Frau tätig förderte.
Es gibt inzwischen schon einige Einspielungen einiger Werke, die am Bayreuther Markgrafenhof des 18. Jahrhunderts komponiert und / oder gespielt wurden. Der Abend mit Dorothee Oberlinger, die uns erst letztens mit dem Potsdamer Gastspiel der Pastorelle von Telemann beglückte, enthält denn auch mehrere dieser Werke – und drei Stücke eines Mannes, von dem die Prinzipalin behauptet, dass er in Bayreuth „bekannt“ gewesen sei. Daran kann man füglich zweifeln – denn dass Carl Philipp Emanuel Bach zwei Konzerte nach Bayreuth schickte weist nicht darauf hin, dass man in Bayreuth überhaupt nur ahnte, wer der Vater war. In der Bayreuther Konzertgeschichte und Wilhelmines umfangreichem Briefwechsel mit ihrem Bruder, in dem viele Erwähnungen der Musik zu finden sind, haben sich keinerlei Spuren irgendeiner Beschäftigung mit den Konzertstücken Johann Sebastian Bachs erhalten.
Egal – denn am Abend zeigt es sich wieder, dass Bach – der Bach – nicht grundlos der Repräsentant der Musik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und nicht allein dieser Epoche war. Zwar haben Dorothee Oberlinger, der Lautenist Axel Wolf und die Cembalistin Olga Watts einige sehr schöne Stücke aus dem markgräflichen Repertoire und aus dessen weiterem Umfeld ausgegraben, doch schlägt Bach alle (wenn wir die Musikgeschichte unzulässigerweise einen Augenblick mal als Olympiade betrachten). Wenn Olga Watts Lars Ulrik Mortensens Bearbeitung der weiträumig disponierten, harmonisch faszinierenden Chaconne aus der Partita in d-Moll BWV 1004 spielt und Dorothee Oberlinger die so einfach daherkommende wie bannende Allemande aus der a-Moll-Partita BWV 1013: dann wissen wir, dass dem Markgrafenhof damals einiges entging, als sie darauf verzichteten, sich Noten des „alten“ Bach aus Leipzig kommen zu lassen. In einer Bearbeitung erklingt auch die g-Moll-Sonate. Bach hat eine Abschrift dieses Werks (immerhin) für einen Potsdamer Kämmerer angefertigt, die Vorlage, die e-Moll-Sonate BWV 1034, wurde für eine Traversflöte geschrieben. Am Abend wird sie auf einer Altblockflöte gespielt, was jederzeit möglich ist, denn kaum eine andere Musik eignet sich so gut für Umsetzungen in andere Instrumente und Instrumentengruppen wie Bachs Musik – zumal dann, wenn sie so virtuos, eloquent und, im Andante, so empfindsam und gleichzeitig so schlackenlos gespielt wird wie von Dorothee Oberlinger und ihren Begleitern. Olga Watts und Axel Wolf beherrschen ihr Metier wie im Schlaf; man hört’s auch, wenn Wolf Lautensonaten von Silvius Leopold Weiss (der Wilhelmine ein paar Stündchen kurz in Dresden unterrichtete) und Adam Falckenhagen (dem Bayreuther Hofmusiker) spielt – und äußerst reizvoll ist es, wenn Wolf und Watts, als Übergang zum nächsten Flötenstück, über das thematische Material der vorher erklingenden Stücke improvisieren.
Ob Wilhelmine, von der nur eine nicht besonders gute Oper – Argenore – mit Sicherheit überliefert ist (während das in Bayreuth bekannte Cembalokonzert inzwischen mit überzeugenden Gründen J.G. Jaenichen zugeschrieben werden konnte), wirklich die vor einigen Jahren entdeckte a-Moll-Flötensonate komponierte? Hört man den ersten Satz, Affettuoso, hat man angesichts der Nähe zum stupiden Melodiemodell aus dem Argenore keinen Zweifel, aber die beiden folgenden Sätze, Presto und Allegro, haben so viel Vitalität, dass man‘s nach Kenntnis ihrer authentischen Kompositionen der Markgräfin kaum zutrauen würde, der Solistin derartigen Pfeffer in die Noten zu schreiben. Dorothee Oberlinger weist auf die Vermittlung durch Franz / Frantisek Benda und dessen böhmische Musiksprache hin – und trifft vielleicht das Rechte. Die Interpretation klingt jedenfalls so mitreißend, wie alles, was an diesem Abend über die Rampe kommt: von Telemanns C-Dur-Sonate für Altblockflöte TWV 41:C5 des zeitweiligen Bayreuther Kapellmeisters von Haus aus, der zwei Opern an den Hof Markgraf Georg Wilhelms schickte, über ein Blockflötensolo, ein höchst artifizielles und flottes Menuett von Johann Joachim Quantz, Friedrichs II. Flötenlehrer, der auch am Bayreuther Hof zu Gast war, Carl Philipp Emanuel Bachs e-Moll-Sonate für Bassblockflöte Wq 124 zu Michel Blavets e-Moll-Sonate op. 2/3 La dʼHérouville, die uns fast am Ende eines stilistisch denkbar unterschiedlichen Programms mit Höhepunkten der Kammermusik der Zeit um und kurz vor 1740 daran erinnerte, dass Friedrich II. (von Preußen) ein großer Liebhaber der französischen Kultur war. Den Rausschmeißer aber macht ein Satz aus einem Werk, das Arcangelo Corelli Wilhelmines Großmutter Sophie Charlotte von Preußen widmete: aus dessen op. 5/10 spielen Oberlinger und ihre Freunde eine Gavotte, die brillanter nicht hätte sein können. Nur schade, dass nur relativ wenige Bayreuther dabei waren, um dem musikalischen Flöten-, Lauten- und Cambalo-Vergnügen zu frönen. Wie ein Musiker am Abend so schön sagte: „Wegen der Blockflöte kommt doch keiner.“ Aber dass sie nicht einmal kommen, wenn Bayreuther Markgrafenmusik auf dem Programm steht…
Woanders füllt die Oberlinger die Säle.
Frank Piontek, 3.9.2021
Foto: ©Andreas Harbach