Wahnfried, 6.8.2021
Die Ansichten schwankten. In der Jugendzeit konnte er schreiben, dass, ausgelöst von Schuberts Liedern, dies ein Genre sei, „der meiner Neigung vortrefflich zusagt“, später sagte er zu Cosima, dass Schubert doch nur ein „Geist dritten Ranges“ gewesen sei (nur Schumann und Brahms, die „keine Melodie“ hatten, standen ihm tiefer) – was das Lob einzelner Lieder niemals ausschloss. Zur Wahrheit gehört auch, dass Wagner bei Schubert die tiefe Nähe der Musik zum Wort empfand – hört man in den Trocknen Blumen einen Anklang an das sog. Schicksal-Motiv des Ring, muss man sich nicht wundern. Wer nach weiteren Beziehungen zwischen der Schönen Müllerin und Bayreuth sucht, die es theoretisch legitimieren (falls eine Rechtfertigung verlangt werden sollte), einen Liederzyklus in Wahnfried zu bringen, könnte sich daran erinnern, dass der Dichter, also Wilhelm Müller, nach Bayreuth gereist war, um hier auf den Spuren Jean Pauls die Rollwenzelin zu treffen.
Man könnte eine Rezension über die Schöne Müllerin oder genauer: den armen Müllerburschen in Wahnfrieds Saal, auch anders beginnen:
Er steht da wie der Poverello der Romantik, als den man Schubert einmal sah. Man lauscht der Stimme und dem Klavier – und hört eine etwas andere, doch goldrichtige Version der Schönen Müllerin. Man denkt vielleicht an des Baritons Dietrich Fischer-Dieskaus Satz, dass der Zyklus am besten in der Kehle eines Tenors aufgehoben sei – und man lauscht eben diesem Tenor, der, rein vokal betrachtet, ein „weißer“ genannt werden kann. Klaus Florian Vogts bekannte helle Stimme ist wie prädestiniert für eine Deutung des Müllerburschen, die lange das Unbedarfte betont. Die Entwicklung aber ist denn doch, alles in allem und aufs Ende hin betrachtet, erstaunlich. Beginnt er den Abend mit dem erzählenden Strophenlied vom Wandern wie ein biedermeierlich bewegter Volksschullehrer, löscht die Begeisterung in der Begegnung mit Mühle und Müllerin (in Halt!) noch nicht das reinweiße Timbre seiner Stimme aus. Man denkt an den liebenswürdigen Taugenichts. Die Danksagung an den Bach erinnert denn auch mit seinem zauberhaften Eingang „War es also gemeint“ eher an ein Volkslied als an eine lyrisch-subjektive Innenschau, der Morgengruß in seinem Ton gar an Humperdinks Sandmann. Dieser Müllerbursche ist ein Jüngling, dessen Emotionen über weite Strecken die der zartesten Unschuld sind; naiv kommen die Lieder 6 und 10, und klar, rein und echt, wie man früher (nicht zu Unrecht) gesagt hätte, ist noch die Enttäuschung, die sich durch die Trocknen Blumen zieht – und wie auch nicht? Denn der Müller liebt noch im Schmerz, was dramatische Aufwallungen, Zornausbrüche gegen den erfolgreichen Nebenbuhler (Was sucht denn der Jäger am Mühlbach hier? wird charakteristischerweise weniger gesungen als gesprochen) und böse Farben (das Lied schollert in dreifachem Forte in den Saal) nicht ausschließt: auch nicht bei Klaus Florian Vogt. So steht er denn da, wo ein treues Herze in Liebe vergeht: wie ein Nachfahre von Watteaus Gilles: ein trauriger Mensch, den der Bach zuletzt in eine sanfte Totenruhe wiegt, der allein ein langes Schweigen antworten kann.
Starker Beifall also für eine eigentümlich jugendliche, gerade deshalb aber umso überzeugendere Interpretation der 20 Lieder, an der der Pianist entscheidend beteiligt ist. Jobst Schneiderat, Solorepetitor der Sächsischen Staatsoper, seit 2000 musikalischer Assistent in Bayreuth, ist der ideale Mann am alten Steinway, der die technischen Tücken des schönen Instruments vergessen macht und dem Sänger auf Schritt und Tritt mit den nötigen Nuancen folgt: bis zum innigen Schluss eines Abends, dem, nach einer angemessen langen Nachfühlpause, die fürs Ganze spricht, der begeisterte Beifall jener 25 Auserwählten folgt, die die Morgen- und die Abendsonne in den äußeren und inneren Schallraum hineinleuchten sahen.
7.8.2021