Markgräfliches Opernhaus, 30.10.2018
Man kann das Auftaktkonzert eines Liszt-Klavierwettbewerbs sicher auch „prunkvoller“, „spektakulärer“ oder „brillanter“ gestalten – aber kommt man so besser an Liszts Kunst heran als durch jene Stücke der Spätzeit, die doch auch für Liszt charakteristisch sind? Zugegeben: angesichts des reinen Klaviermaterials, das Leslie Howard auf über 90 CDs verewigt hat, könnte jeder Liszt-Abend völlig anders aussehen als jeder andere. Es sei denn, dass man einmal einen tagelangen Liszt-Marathon veranstalten würde (der Wunschtraum eines unbeschuhten Lisztianers….).
Wer sich Kit Armstrong ins Markgräfliche Opernhaus lädt, um ein reines Liszt-Programm über die musikalische Bühne gehen zu lassen, muss damit rechnen, etwas Ungewöhnliches geboten zu bekommen. Mit den sieben Werken bzw. Ausschnitten aus größeren Zyklen hat der bemerkenswerte junge Pianist – nicht als Tastenschläger, sondern als dramaturgisch denkender Ausdrucksmusiker von höchsten Graden – einen Abend zusammengestellt, der auch heißen könnte: Der späte Liszt. Zudem repräsentieren die sieben Stücke jeweils verschiedene Gattungen, die Liszt bevorzugt hat: ein Stück aus dem Bachwerkverzeichnis, arrangiert für Klavier, das die Vorliebe für die „alte Musik“ spiegelt, ein Stück über B-A-C-H – damit ein Variationsgroßwerk, drei Miniaturen aus einem ungarischen Zyklus, die Klaviertranskription eines Orchesterstücks, drei extrem späte Klavierstücke, die Klavierfassung des Vorspiels zu einem seiner beiden vollendeten Oratorien, ein bedeutender, aber nicht ausgesprochen virtuoser Variationszyklus – und als Encore, wie passend, das „Schlummerlied“ aus dem Weihnachtszyklus.
Wie also geht Armstrong an die Werke heran, die sich weniger um das Vergnügungsbedürfnis eines, wie Wagner gesagt hätte, „sich fächelnden“ als eines kontemplativ gestimmten Publikums und nach den eigenen, durchaus verständlichen Vorlieben des Musikers richten? Mit Bachs Fantasie und Fuge g-Moll BWV 542 ist Armstrong sofort in der Atmosphäre der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts drin. Wir hören, vor allem bei der Fantasie, weniger bei der Fuge, einen romantisierten, dunklen Bach im Geist des Historismus; der Steingraeber-Flügel vertieft die Dunkeldimension dieses Werks, die geschwinde Fuge kommt mit feinen dynamischen Steigerungen (und Zurücknahmen) aus. Liszts eigene, gewaltig dimensionierte B-A-C-H-Variation S 529 wird unter den Händen Kit Armstrongs zur bannenden Tondichtung. Das Klavier wird zum Orchester, aber vor allem: Die kleinste davonfliegende Note wird zum Bedeutungsträger, die rauschende Hülle, in die Liszt zuweilen das erratische Thema packt, ist bei diesem Musiker nicht ein flitterndes Ornament, sondern ein dramatisches, ja, mit Liszt zu sprechen: ein poetisches Gebilde.
Armstrong lässt immer wieder die zeitlichen Dimensionen seiner ausgewählten Lisztiana spüren, wenn er sie in extrem lange Ausklänge führt, die nur der für manieristisch halten könnte, der nichts von den esoterischen Inhalten verspürt. Die Pausen zwischen dem letzten Ton und dem Applaus sind jedenfalls immer (schön) lang; die Musik darf bei diesem Musiker atmen. So auch bei den Nrrn. 1, 6 und 4 der „Historischen Ungarischen Bildnisse“ S 205. Nr. 6, dem Alexander Petöfi gewidmet, erinnert an den Titel eines anderen späten Klavierstück des Meisters: „Frage und Antwort“. Die Antwort aber fällt weder bei Liszt noch bei Armstrong stürmisch aus. Er interessiert sich offensichtlich mehr für Untergänge als Triumphmärsche. Liszt oder der zweifelnde Aushall… „Le Triomphe funèbre du Tasse“ S 517 ist eben ein Begräbnistriumph, nicht das Auftrumpfen eines Lebenden. Kein Wunder also, dass den zweiten Teil nicht irgendwelche heiteren Walzer, sondern die drei schrägen „Valse oubliées“ eröffnen: drei Stücke des Stockens und des Scheiterns, freilich auch der ironischen, schon zur Zukunftsmusik eines Debussy hinüberleitenden Witzes.
Typisch für den relativ späten Liszt kommt auch das Vorspiel zum Oratorium von der heiligen Elisabeth: eine mit seinem um sich kreisenden gregorianischen Thema geistlich-konzertante Musik, die definitiv nicht auf Virtuosität und akustische Effekte, sondern auf Konzentration aus ist. Selbst die Almira-Variationen nach Themen von Händel S 181 sind ein Werk der Schroffheit eher als des Charmes; Armstrongs Wahl ist auch hier so bezwingend wie sein Spiel stets bannend ist. Auch Liszt kann ja, unter den falschen Händen, hohl klingen. Den Schluss aber macht, wie geschrieben, das „Schlummerlied“. Armstrong entlässt uns nicht mit einer pompösen oder brillanten Zugabe, sondern mit einer innerlichen, in den Schlaf tröpfelnden schön-schlichten Kostbarkeit.
Man hätte sich ansonsten auch gewundert.
Frank Piontek, 31.10.2018
Foto: © Andreas Harbach