Lübeck: „Simon Boccanegra“, Giuseppe Verdi

Als hätte eine der von Hieronymus Bosch inspirierten Höllengestalten aus der Inszenierung von Pamela Recinella ihre teuflischen kleinen Klauen im Spiel gehabt, geriet der Premierentag für Leitung und Ensemble des Lübecker Theaters zur schweißtreibenden Zitterpartie. Bernd Reiner Krieger, künstlerischer Betriebsdirektor des Musiktheaters und stellvertretender Operndirektor, trat vor dem Beginn der Aufführung vor die Bühne und verkündete, daß Gerard Quinn, der Sänger der Titelpartie, seit Wochen von einer Erkältung geplagt werde und man nach einem Rückfall mit stimmlichen Einbußen zu rechnen habe. Am Vormittag dann fiel auch noch der Darsteller des Jacopo Fiesco, Rúni Brattaberg, aus, doch innerhalb kürzester Zeit gelang es, den litauischen Baß Almas Svilpa vom Theater Essen als Ersatz zu gewinnen. Wer den Freitagsverkehr auf der A 1 kennt, weiß, was man da an Nerven läßt, wenn es um jede Minute geht.

Foto: © TL/Olaf Malzahn

Nun ist Verdis Melodrama „Simon Boccanegra“ schon inhaltlich reichlich komplex, denn die Geschichte vom tapferen Korsaren, der Doge der mächtigen Stadt und Seemacht Genua geworden ist, wird theatralisch angefüllt durch eine Reihe von gesellschaftlichen und persönlichen Konflikten. Dazu kommen ein anrührendes Vater-Tochter-Wiedersehensdrama und ein Zeitsprung über 25 Jahre, der inszenatorisch stets eine Herausforderung darstellt. Anders als bei den meisten Verdi-Opern sterben die Menschen hier auch nicht reihenweise zum Dreiviertaltakt, sondern eine ungemein vielfarbige Partitur mit einer für den Komponisten eher seltenen dichten Kongruenz zum Libretto schafft sowohl psychologischen Tiefgang als auch den Hintergrund für die emotional aufgeladenen Interaktionen und Entwicklungen einer Geschichte voller menschlicher Abgründe und machtpolitischer Verstrickungen.

Diese Inszenierung durchwabert ein unheilverkündender Nebel; das Bühnenbild von Jason Southgate, der auch die Kostüme entworfen hat, ist geprägt von grauer Düsternis, dann wieder schwappen blaue Meereswogen in die Szenerie. Die wird bei den Massenszenen von einem reichhaltigen Personal belebt, das durch die in mehrfacher Hinsicht phantastischen Gemälde von Hieronymus Bosch inspiriert ist.

Foto: © TL/Olaf Malzahn

Ein kluger Einfall ist dabei, die zweite Tafel seiner „Visionen vom Jenseits“ mit dem charakteristischen Lichttunnel in ein schwarzes Loch zu verwandeln, denn hier gilt das Motto aus Dantes Inferno, „Lasciate ogni speranza“– lasst alle Hoffnung fahren! Dieses Loch dient manchmal durch die geschickte Beleuchtung von Falk Hampel als Fenster in Erinnerungen oder Blick in den Kerker; die bei Bosch lichtvoll gestaltete Nahtodvision ist in jedem Falle in ihr finsteres Gegenteil verkehrt. Ein kulissenhaftes Schiff, das an das spätmittelalterliche „Narrenschiff“ von Sebastian Brant erinnert, läßt an Umzüge aus der Originalspielzeit denken. Für passendes Zeitkolorit sorgen auch die Kostüme aus der Epoche vom 14. bis zum 15. Jahrhundert; hier hat Southgate gut recherchiert.

Diese Produktion steckt voller brillanter Ideen und intelligenter Querverweise, die in der Durchführung aufgrund einer nicht zu Ende geführten Personenregie, gerade, was die Gruppenszenen betrifft, oft in den Ansätzen steckenblieben. Die Höllengestalten mit den reizvollen, phantasievoll entworfenen Kostümen verharrten meist entweder statisch oder agierten in unterschiedlichen Bewegungsgeschwindigkeiten – war da eine Zeitlupe angedeutet oder hemmte eine imaginäre Masse die Figuren? Hier fehlte die Konsequenz, was ein Verständnis des Dargestellten erschwerte.

Foto: © TL/Olaf Malzahn

Die immer wieder auftretende Allegorie des Todes wirkte trotz der gespenstischen Maskerade aufgrund der schlaffen und spannungslosen, ja geradezu gelangweilten Bewegungen und des Schlenderganges äußerst harmlos; als Süddeutscher war man an den „Boandlkramer“ aus dem bayerischen Volkstheater erinnert, der vielleicht die Kinder erschreckt, die Erwachsenen aber lediglich belustigt. Recinellas spannender Ansatz einer dialektischen Gegenüberstellung von Paradies und ewiger Verdammnis sowie dem Bild des Senats als verkommenem Höllenpersonal geriet eher komödiantisch; die mangelnde Personenführung verlieh den Mitwirkenden mehr Komisches als Unheimliches – die Vorbilder von Bosch oder Brueghel vermitteln da auch als Gemälde mehr beunruhigende Dynamik. Daß der eigentlich tote Doge am Ende vorn auf einem während des gesamten Abends dort stehenden Sarg sitzt, mag irritieren, trübt aber das großartige Schlußbild mit dem verängstigten Gabriele Adorno als neuem Dogen auf dem Thron keineswegs. Schon ist auch sein Schicksal, nun umringt vom intriganten Pietro im Mantel Paolos, einer waffenstarrenden Menge und der Allegorie des Todes, besiegelt.

Das überwiegend dunkel-, häufig goldtonig gehaltene und dadurch dem Betrachter schmeichelnde Licht auf der Bühne wurde durch die wechselnden, grell-knalligen Farben einer sich immer wieder senkenden Lichtleiste empfindlich gestört. Sie blieb in der Deutung unklar; Versuche, eine Farbsymbolik auf das Geschehen zu übertragen, ließen auch den nicht unerfahrenen Kunsthistoriker ratlos zurück. In einer so deutlich mittelalterlich ausgestatteten Bühne wirkte sie einfach nur störend und überflüssig.

Foto: © TL/Olaf Malzahn

Musikalisch hingegen war diese Premiere absolut überzeugend, denn das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter seinem 1. Kapellmeister Takahiro Nagasaki verstand es wunderbar, die feinen, zeitweise wie im Sonnenlicht flirrenden Klangfarben differenziert auszumalen und ebenso stark in den dramatischen Stellen wie zart in den feinen klanglichen Seelenbildern Verdis mehrfach überarbeitete Musik sprechen zu lassen.

Der Chor unter Jan Michael Krüger sang gewohnt exakt und kraftvoll; gerade die harten Abbrüche vor markanten Generalpausen gelangen perfekt.

Die angekündigte Beeinträchtigung von Gerard Quinns Bariton hielt sich völlig in Grenzen; manchmal paßte ein rauhes Röcheln gerade gut zum Text. Das hat er wirklich bravourös gemeistert und nach der Pause war von der Indisposition gar nichts mehr zu hören. Der Einspringer Almas Svilpa, dessen Kostüm in letzter Minute gerade noch angepaßt werden konnte, war bewundernswert souverän und fügte sich, unterstützt von der Regieassistentin aus der Gasse und den Kollegen auf der Bühne, organisch in das Geschehen ein; sein Baß war markig und kraftvoll. Der darf gerne öfter aus Essen anreisen!

Star des Abends aber war unbestritten die Sopranistin Flurina Stucki von der Deutschen Oper Berlin, deren Amelia mit größtmöglicher Präsenz bei Berücksichtigung all der Zartheiten in der Wiedergabe ihrer Emotionen absolut überzeugte. Darstellerisch und gesanglich bot sie eine umwerfende Einheit; sie verstand es, ihre starke, alles überstrahlende Stimme zu zügeln, wenn es zu seelenvollen Duetten wie dem mit ihrem wiedergefundenen Vater oder ihrem Geliebten Gabriele Adorno ging. Den verkörperte Yoonki Baek, der sein typisches tenorales Schluchzen nur sehr gemessen einsetzte, und der den jungen Patrizier kraftvoll mit großer Verve und Leidenschaft gab.

Sein Gegenspieler, der finstere Paolo Albiani, war Jacob Scharfman, der es immer wieder schafft, auch dem größten Fiesling noch etwas Aristokratisches zu geben. Scharfmans voller, eleganter Bariton dringt ohnehin mühelos über jedes noch so stark spielende Orchester hinweg, am Premierenabend war er einfach grandios in seiner Verkörperung sinistren Machtwillens, der schließlich Opfer der eigenen Verdammung wird.

Ein Neuzugang aus dem Opernstudio ist Changjun Lee, ein eindrucksvoller Baß, der in der Rolle des Pietro zu erleben war. Man erhofft sich, mehr von diesem jungen Talent zu hören.

Der Tenor Noah Schaul hatte diesmal nur einen kurzen Auftritt, nämlich als Hauptmann, der hier im Narrenkostüm erschien. Für ihn, wie die Mezzosopranistin Simone Tschöke als Magd Amelias gilt, daß das Lübecker Haus auch die kleinen Rollen grundsätzlich stark besetzt.

Trotz einiger kleiner technischer Pannen, die teils sicher der erschwerten Besetzungslage geschuldet waren, gelang dieser Abend musikalisch wunderbar, was mit mehrfachem Szenenapplaus und langanhaltendem, begeistertem Beifall nach dem Verhallen der letzten melancholischen Takte belohnt wurde.

Andreas Ströbl, 15. Mai 2023


Giuseppe Verdi

Simon Boccanegra

Theater Lübeck

12. Mai 2023

Musikalische Leitung: Takahiro Nagasaki

Inszenierung: Pamela Recinella

Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck

Nächste Vorstellungen: 24. Mai und 18. Juni;

die Produktion wird in der kommenden Spielzeit wiederaufgenommen.