Wo sind die Jahre geblieben? 2019 feiert Bremen bereits das 30. Musikfest. Und es ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte, weil Intendant Thomas Albert es versteht, in jedem Jahr hochrangig besetzte und in ihrer Vielfalt stets interessante Programme zusammenzustellen. Da gab es so manche Sternstunde.
Das ist zum Jubiläum nicht anders. Gleich beim Eröffnungsabend, der traditionellen „Großen Nachtmusik“, gab es mit dem Gastspiel des Rotterdam Philharmonic Orchestras einen Glanzpunkt. Das international renommierte Orchester schlug einen großen Bogen von der Wiener Klassik über die Romantik bis zu Klassikern des 20. Jahrhunderts. Dirigent Lahav Shani profilierte sich bei Mozarts Klavierkonzert Nr. 27 B-Dur KV 595 mit kultiviertem Anschlag auch als Solist. Er entwickelte die Themen sehr organisch und sicherte der Musik ihre Lieblichkeit. Das sehr langsam genommene Larghetto war Lyrik pur. Und im Schlusssatz mit dem an das Lied „Komm, lieber Mai“ erinnernden Thema setzte er auf eine nie vordergründige Fröhlichkeit. Das Zusammenspiel mit dem einen weichen Klang bevorzugenden und vom Klavier aus geleiteten Orchester klappte vorzüglich.
Beim Violinkonzert Nr. 1 g-Moll op. 26 von Max Bruch konnten Shani und die Rotterdamer in opulentem Wohlklang schwelgen, was sie sich auch nicht entgehen ließen. Die Solistin Vilde Frang setze dem einen feinen Geigenton entgegen. Beim Adagio ließ sie ihr Instrument geradezu seelenvoll singen. Insgesamt gelang eine ausgewogene Wiedergabe, auch wenn Frang im Schlusssatz noch eine Spur kraftvoller hätte spielen können.
Zu großer Form liefen Shani und das Rotterdamer Orchester bei La Valse von Maurice Ravel auf. Das Stück ist ähnlich raffiniert wie der „Bolero“ komponiert. Der Walzerrhythmus brodelt zunächst geheimnisvoll wie hinter Schleiern, bevor sich die Walzerklänge rauschhaft entfalten. Aber die klangmächtigen Eruptionen kippen die Stimmung fast fratzenhaft ins Dämonische – wie ein Kettenhund, der sich losgerissen hat und alles verschlingen will. Shani und das Rotterdam Philharmonic Orchestra beeindruckten hier mit unglaublicher Intensität und einer exemplarischen Wiedergabe.
Mit Petruschka – Burleske in vier Bildern von Igor Strawinsky in der Fassung von 1947 wurde ein gewichtiger Schlusspunkt gesetzt. Die Episoden der tragikomischen Geschichte von der Jahrmarktsfigur Petruschka wurden vom Orchester sehr plastisch beschworen. Da wechseln sich zarte Soli mit stampfendem, vollem Orchesterklang ab, eine geheimnisvoll-märchenhafte Stimmung (Flöte!) steht neben folkloristischen Einschüben. Und immer wieder überrascht Strawinskys Musik mit überraschenden Wendungen voller Witz. Diese Musik vom Rotterdamer Orchester zu hören, war ein uneingeschränktes Vergnügen. (24.8.)
Für eine besondere Sternstunde des Musikfestes bedurfte es keinerlei Gäste: Sie wurde von den Bremer Philharmonikern und von Yoel Gamzou, dem Generalmusikdirektor des Bremer Theaters, beschert. Auf dem Pogramm stand die Sinfonie Nr. 10 von Gustav Mahler in der Version, die Gamzou bereits 2010 erarbeitet hatte. „Meine Intention bei dieser Edition war nicht, Ihnen eine wissenschaftliche Präsentation der Entwürfe von Mahler im Form einer aufführbaren Partitur vorzulegen, sondern die Basis für etwas Erlebbares zu schaffen, eine Botschaft zum Leben zu erwecken“, sagt Gamzou. Und das ist ihm mit geradezu erdrückender Eindringlichkeit gelungen. Ob seine Version Mahlers endgültigen Vorstellungen entspricht, kann niemand sagen, auch Gamzou nicht. Aber die Frage ist im Grunde zweitrangig. Zum einen wurde jeder Takt von Mahler in Entwurfsform geschrieben, zum anderen ist Gamzou mit seiner Ausarbeitung eine schlichtweg überwältigende Fassung von zeitloser Gültigkeit gelungen. „99,7 Prozent der Töne im Werk sind von Mahler.“
Gamzous Wiedergabe mit den Bremer Philharmonikern sorgte für ein erschütterndes Erlebnis. Das Orchester wuchs bei der Ausgestaltung der fünf sehr unterschiedlichen Sätze geradezu über sich hinaus. Die prachtvolle Klangentfaltung im Eingangssatz, dem Adagio, sowie auch im Finale mit den schicksalhaften, erbarmungslosen Trommelschlägen – das war von majestätischer Größe. Das aufgewühlte erste Scherzo oder das wie im Delirium vorbeihuschende zweite Scherzo („Der Teufel tanzt es mit mir“) mit seinen großen Ausbrüchen wurden mit perfekter Balance musiziert. Das kurze Purgatorio zwischen den Scherzi markiert den Wendepunkt der Sinfonie zwischen Paradies und Abschied. Dieser Abschied kombiniert Verzweiflung mit tröstlicher Hoffnung.
Nach dem letzten Ton herrschte im Publikum atemlose Stille, bei der man eine Stecknadel hätte fallen hören können, bevor der frenetische Jubel ausbrach. Fast neunzig Minuten, die unvergesslich bleiben werden. (27.8.)
Bei vergangenen Musikfesten waren die konzertanten Opernaufführungen in der Glocke immer ein besonderer Höhepunkt. Das gilt auch für La Traviata in diesem Jahr, obwohl die Sopranistin Patricia Petibon, die die Violetta singen sollte, krankheitshalber kurzfristig abgesagt hatte. Aber solche Dinge dürften den Intendanten Thomas Albert nicht erschüttern, zumal es nicht so schwierig sein sollte, für diese Partie einen Ersatz zu finden. Aber das dieses „Unglück“ letztlich mit der Einspringerin Nicole Chevalier zu einem rundum beglückenden Abend führte, übertraf alle Erwartungen.
Nach Engagements in Freiburg, Kassel, Berlin und Hannover, wo Nicole Chevalier die Violetta oft sang, startet die Amerikanerin gerade in eine internationale Karriere. So begeisterte sie in diesem Jahr bei den Salzburger Festspielen als Elettra in „Idomeneo“ mit Teodor Currentzis am Pult. Auch dem Bremer Publikum ist Nicole Chevalier bereits bekannt: Hier trat sie 2015 in „Les Robots ne connaissent pas le Blues oder Die Entführung aus dem Serail“ als Konstanze auf.
Die Violetta von Nicole Chevalier ist schlichtweg ein Ereignis – anders kann man es nicht bezeichnen. Ihr technisch perfekt und mühelos geführter Sopran voller Glanz und Wärme ist die eine Seite. Die andere ist ihr ausdrucksvolles Gestaltungsvermögen. Allein ihre Mimik und Körperhaltung sprechen Bände. Schon in der Arie „È strano“ verdeutlicht sie jede Nuance ihrer widersprüchlichen Gefühle, ihrer Zerrissenheit: Der tiefe Eindruck, den Alfredos Liebesbekenntnis bei ihr ausgelöst hat, ihre Hoffnung auf Glück und dann ihr trotziges Bekenntnis, ihr Leben einzig dem Vergnügen widmen zu wollen. Dass dies allerdings nur Fassade ist kann die Sängerin eindrucksvoll vermitteln. Ihre Verzweiflung in der Szene mit Vater Germont ist wie zum Greifen plastisch. Und im letzten Akt mit dem ergreifenden „Addio del passato“ findet sie zu inbrünstigen Tönen, die aus tiefstem Herzen kommen. Die vielen Farben ihrer Stimme sind unerschöpflich. Keine Frage: Die Violetta von Nicole Chevalier hat Weltklasseformat und hat im Publikum manche Träne rollen lassen.
Ihr zur Seite stand als Alfredo mit Antonio Poli ein italienischer Tenor mit attraktivem und sehr männlichem Timbre. Poli singt u.a. an der Mailänder Scala, in Berlin, London und Rom. Nicht ohne Grund: Sein Tenor hat eine schöne Farbe und verfügt über eine sichere Höhe. Den Alfredo singt er mit Leidenschaft und Gefühl. Die Figur ist in seiner Interpretation vom mitreißenden „Brindisi“ bis zum berührenden Schlussduett absolut überzeugend.
Auch der Vater Germont war mit dem international tätigen Bariton George Petean prominent besetzt. Seinen Auftritt gestaltet er zunächst mit unerbittlicher Härte. Wenn er allerdings von seiner Tochter singt, gibt er seine Stimme Wärme und Zärtlichkeit. Seine Arie „Di provenza il mar“ lässt er klangvoll und mit purer Schönheit strömen.
In weiteren Partien waren u. a. Eléonore Pancrazi als Flora, Clare Presland als Annina, Matthieu Justine als Gastone und Marc Scoffoni als Douphol und Grenvil zu hören.
Seit einigen Jahren ist der von Detlef Bratschke projektbezogen zusammengestellte Musikfest Chor Bremen eine feste Größe beim Musikfest. Auch bei „La Traviata“ zeigt er seine beeindruckenden Qualtäten.
Auch der Dirigent Jérémie Rhorer und das von ihm gegründete, auf historischen Instrumenten musizierendes Orchester Le Cercle de l’Harmonie sind seit 2008 regelmäßige Gäste beim Musikfest. Ihre Wiedergabe von „La Traviata“ zeichnet sich durch schlackenlose Klarheit und ein sehr differenziertes Klangbild aus. Dem Fest bei Flora verleiht er eine fiebrig aufgeheizte Stimmung. Manche Passagen nimmt er in sehr schnellem Tempo, sichert aber den emotionalen Momenten auch den angemessenen, ruhigen Fluss.
Die Begeisterung des Publikums für diesen großen Abend war verdientermaßen enthusiastisch. Leider wurde im letzen Akt aber auch mitunter in die gerade erzeugte Stimmung hineingeklatscht. (30.8.)
„Cosi fan tutte“- das heißt: So machen es alle. Teodor Currentzis beim Bremer Musikfest – das bedeutet: So machen es nicht alle. Currentzis ist für seinen frischen, ungewöhnlichen Zugriff auf die Werke, die er interpretiert, berühmt geworden. Beim Musikfest Bremen ist er seit 2015 in jedem Jahr zu Gast gewesen. Vor ein paar Tagen wurde er mit dem Musikfest-Preis ausgezeichnet. In der Begründung heißt es: „Wie ein Zeremonienmeister balanciert Currentzis die Musik aus zwischen Strenge und Vitalität einerseits und Askese und Spiritualität andererseits. Seine richtungsweisenden Interpretationen sind mal kraftvoll strotzend, mal filigran sensibel, aber immer farbenreich, sinnlich, spannungsgeladen und voller Hingabe.“
All das gilt auch für die konzertante Wiedergabe von Mozarts Cosi fan tutte in der Bremer Glocke. Schon die spannungsvoll abschnurrende Ouvertüre zeigt, wohin die Reise geht. Currentzis sorgt im Laufe des langen Abends (er hat viele der üblichen Striche aufgemacht) für ständige Wechselbäder. Das gilt für Tempi und Dynamik. Mal lässt er das überwiegend im Stehen musizierende Orchester knallig in die Vollen gehen, mal sorgt er für einen filigranen Klangteppich von berückender Zartheit. Letzteres gilt exemplarisch für das Abschiedsquintett im 1. Akt und das kurz darauf folgende Terzett „Soave sia il vento“, bei dem das Orchester und die Solisten eine Stimmung von traumhafter Schönheit beschwören. Das Orchester MusicAeterna aus dem sibirischen Perm ist ideal auf Teodor Currentzis eingeschworen und kann jede kleine Nuance, jedem Impuls perfekt in Klang umsetzen. Die Spielkultur genügt dabei höchsten Maßstäben. Auch die Tempi haben bei Currentzis eine große Spannweite. Mal hat er für die Duette alle Zeit der Welt und gibt ihnen eine berührende Innigkeit, dann wieder heizt er Orchester und Solisten zu mitreißendem Brio an.
Currentzis ist es gelungen, seine Sängerschar zu einem homogenen Ensemble zu formen. Alle zeichnen sich durch schlanke, unverbrauchte Stimmen aus. Zu Beginn klingt Nadezhda Pavlova als Fiordiligi noch etwas verhaucht, aber das gibt sich schnell. Ihre Koloraturtechnik ist bemerkenswert – und spätestens bei der brilliant und virtuos vorgetragenen Felsenarie hat sie alle Herzen erobert. Ihr schöner Sopran harmoniert bestens mit dem schlanken Mezzo von Paula Murrihy, die eine beherzte, mitunter schelmische Dorabella mit viel Charme gibt. Anna Kasyan überzeugt vor allem mit ihrem quirligen Spiel. Wie ein „italienischer Wirbelwind“ saust sie über das Podium, flirtet mit dem Dirigenten und drängt ihn auch schon mal vom Pult. Bei ihrem Auftritt als falscher Notar mit veritabler Micky-Maus-Stimme sorgt sie für Heiterkeit. Das tun auch Guglielmo und Ferrando, wenn sie mit ihren skurrilen Perücken erscheinen. Mit Konstantin Suchkov und dem chinesischen Tenor Mingjie Lei sind beide Partien attraktiv besetzt. Suchkov überzeugt mit kernigem, etwas angerautem Bariton und singt mit emotionalem Nachdruck. Besonders Lei lässt als Ferrando aufhorchen, vor allem bei seiner Arie „Un’ aura amorosa“, bei der er (im zweiten Teil!) mit schönstem, ganz auf Linie gesungenem Piano beeindruckt. Das Zynische geht dem Don Alfonso in der Interpretation von Konstantin Wolff etwas ab. Seinen Bass-Bariton setzt er sehr kultiviert ein, aber er ist ein Drahtzieher der freundlicheren Art.
Es ist guter Brauch beim Musikfest, dass bei konzertanten Opern im Rahmen der Möglichkeiten auch szenisch etwas gespielt wird. Dafür sorgten Nina Vorobyova (szenische Einrichtung) und Svetlana Grischenkova (Kostüme). Das war in der Vergangenheit schon oft geglückt. Und auch hier ist die Lebendigkeit der Aktionen gegeben. Man kann fast glauben, dass Currentzis am liebsten auch mitgespielt hätte, so beredt war seine Mimik, so gestenreich seine Beteiligung, als würde er jede Partie mit durchleben. Am Ende gab es begeisterten Jubel für einen langen, dafür aber auch glanzvollen Mozart-Abend. (3.9.)
Wolfgang Denker, 4.9.2019
Foto Rotterdam Philharmonic Orchestra von Guido Pijper
Foto Vilde Frang von Marco Borggreve
Foto von Lahav Shani von Hans van der Woerd
Foto Bremer Philharmoniker von Marcus Meyer
Foto Yoel Gamzou von Christian Debus
Foto Le Cercle de l’Harmonie und Jérémie Rhorer von Jérôme Jouve
Foto Nicole Chevalier von Maurice Korbel
Foto von MusicAeterna von Anton Zavjyalov
Foto Teodor Currentzis von Nadya Rosenberg