Ab der Spielzeit 2026/27 wird Frank Hilbrich das Musiktheater im Revier als Generalintendant leiten. Einen Vorgeschmack auf sein künstlerisches Wirken liefert aktuell an diesem Haus die Commedia lirica Falstaff von Giuseppe Verdi. Somit stellt Verdis letztes Bühnenwerk gleichzeitig Hilbrichs Regiedebüt am MiR dar – eine Anekdote, die nur das Leben schreiben kann. Nachdem Giuseppe Verdi und der Librettist Arrigo Boito im Jahr 1887 Shakespeares Tragödie Otello erfolgreich auf die Bühne brachten, wollte Verdi unbedingt noch einmal ein lustiges Werk komponieren, da seine bis dahin einzige komische Oper Un giorno di regno bei der Uraufführung im September 1840 an der Mailänder Scala in einem Fiasko endete. Über 50 Jahre später fand im Februar 1893 am selben Ort die Uraufführung des Falstaff statt, für den sich Verdi und Boito erneut bei William Shakespeare bedienten. Bereits in den Werken Heinrich IV. und Heinrich V. war die Figur des Sir John Falstaff als wohlbeleibter, trink- und raufsüchtiger Soldat sehr beliebt, da er trotz seiner großen Selbstüberschätzung immer wieder mit überraschend philosophischen Überlegungen aufwarten konnte. Mit Die lustigen Weiber von Windsor widmete Shakespeare ihm eine weitere Geschichte. Diese stellt auch die Grundlage für Boitos Libretto dar, angereichert mit Passagen aus Heinrich IV. und diversen weiteren Shakespeare-Zitaten und -Anspielungen. Im Gegensatz zu Verdis Frühwerk Un giorno di regno wurde Falstaff ein großer Triumph und bildet somit einen würdigen Abschluss einer großen Karriere.

Die durchkomponierte Oper zeichnet sich durch eine besondere musikalische Finesse aus. Dabei harmonieren Musik und Dialoge immer wieder miteinander. Es gibt vergleichsweise wenige große Werke, in denen die Musik mit einer derartigen Präzision zu den Texten komponiert wurde, um besondere Aussagen zu unterstreichen oder die Gefühle der Personen zu untermalen. Selten ist es passender zur sagen, dass in der Oper die Musik zur Sprache werden kann. Was hier in Gelsenkirchen von der Neuen Philharmonie Westfalen unter der musikalischen Leitung von Rasmus Baumann aus dem Orchestergraben erklingt, ist eine wahre Freude. Mit großer Genauigkeit und exzellent auf die Sängerinnen und Sänger abgestimmt spielt das Orchester Verdis Oper in voller Pracht. Mit dem britischen Bariton Benedict Nelson steht zudem ein Falstaff auf der Bühne, der die Titelrolle darstellerisch wie gesanglich meisterhaft verkörpert. Man darf sich bereits jetzt auf den Fliegenden Holländer Ende September am MiR freuen, in dem Nelson ebenfalls die Titelrolle übernehmen wird. Aber auch alle weiteren Rollen sind beim Falstaff musikalisch auf höchstem Niveau: Simon Stricker als Ford, Martin Homrich als Dr. Cajus, Benjamin Lee als Bardolfo, Yevhen Rakhmanin als Pistola, Khanyiso Gwenxane als Fenton, Heejin Kim als Alice Ford, Subin Park als Nannetta, Almuth Herbst als Mrs. Quickly und Constanze Jader als Meg Page – allesamt überzeugend in jeder Hinsicht.

Besonders das Damen-Quartett agiert mit großer Spielfreude und läutet den Abend zu Beginn des zweiten Bildes im ersten Akt erst so richtig ein. Regisseur Frank Hilbrich sieht Falstaff als eine Art Spieler, dessen Welt wie eine Bühne wirkt. So erinnert das Gasthaus zu Beginn des Stücks durchaus beabsichtigt an eine Theaterkantine, in der bereits vor der Vorstellung reges Treiben herrscht und die Musiker über eine Leiter von der Bühne in den Orchestergraben herabsteigen. Man benötigt am Anfang durchaus ein paar Minuten, um in die Inszenierung einzutauchen. Spätestens mit dem erwähnten Auftritt der vier Damen, die zuvor unbemerkt im Publikum saßen, zündet jedoch auch Hilbrichs feiner Humor, der für einen unterhaltsamen Theaterabend sorgt. Zwei übergroße Liebesbriefe müssen vom überrumpelten Publikum in der ersten Reihe gehalten werden, was äußerst komisch wirkt. Auch wie Ford als verkleideter Mr. Fontana wie eine schlechte Parodie eines Geheimdienstagenten mit langem Mantel, Sonnenbrille und großem Hut auftaucht, ist herrlich anzusehen. Dass er dabei die ganze Zeit mit dem angeklebten Schnurrbart kämpft, kann Absicht oder Zufall gewesen sein; es passte jedoch hervorragend in diese Szene. Auch die Szene, in der sich Falstaff kurz verabschiedet, um sich für das Rendezvous hübsch zu machen, nur um danach wie ein aufgeplusterter Sonnenkönig aufzutreten, versprüht großen Charme. In Hilbrichs Inszenierung spielt die Verkleidung allgemein eine wichtige Rolle. Gabriele Rupprecht hat dazu sehr passende Kostüme entworfen. Insbesondere im dritten Akt wird es wild: Die maskierte Gesellschaft macht sich über Falstaff lustig und verhindert in einer großen Verkleidungsverwechselung die ungewollte Hochzeit von Nannetta mit Dr. Cajus. Die Inszenierung ist hier nicht nur humorvoll, sondern besitzt auch Tiefgang. Denn wie Falstaff am Ende des Abends der Gesellschaft, die sich für moralisch überlegen hält, den Spiegel vorhält, da diese im Grunde die gleichen Methoden wie er nutzt, nur um eigene Ziele zu erreichen, ist eine gelungene Abwandlung des Endes. So steht John Falstaff hier am Ende nicht wie ein Trottel da. Vielmehr mahnt er an, dass eine Gesellschaft, die sich anmaßt über andere zu urteilen und Personen wegen unliebsamer Aussagen oder Handlungen systematisch ausschließt, keine freiheitliche Gesellschaft mehr ist.

Am Ende gab es großen Jubel im Publikum für eine gelungene Inszenierung, die große Vorfreude auf die Spielzeit 2026/27 unter der Intendanz von Frank Hilbrich weckte. Wer noch die Möglichkeit hat, sich eine der beiden verbleibenden Vorstellungen in den kommenden Tagen anzusehen, sollte dies unbedingt tun.
Markus Lamers, 5. Juli 2025
Falstaff
Oper von Giuseppe Verdi
Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen
Premiere: 14. Juni 2025
besuchte Vorstellung: 3. Juli 2025
Inszenierung: Frank Hilbrich
Musikalische Leitung: Rasmus Baumann
Neue Philharmonie Westfalen
Weitere Aufführungen: 6. Juli und 11. Juli 2025