Mozart, Tschaikowsky, Beethoven und vieles mehr
Wenn man von einer Musikfest-Familie sprechen will und damit die Schar der Künstler meint, die seit Jahren regelmäßig in Bremen zu Gast sind, dann gehört der Pianist und Komponist Fazil Say mit Sicherheit an vorderster Stelle dazu. Bereits 2008 erhielt er den Musikfest-Preis und hat immer wieder mit ganz unterschiedlichen, auch genreübergreifenden Programmen überrascht, die von Klassik über Jazz bis hin zu eigenen Kompositionen reichten.
Auch bei seinem diesjährigen Klavierabend überzeugte er mit einem kontrastreichen und reizvollen Programm. Den Komponisten Chopin – und da insbesondere die Nocturnes – hat Say erst neuerdings für sich entdeckt. Say spielte hier die drei erst nach Chopins Tod veröffentlichten Nocturnes.
Das Nocturne e-Moll op. post. 72 Nr. 1 nahm Say trotz eines zügigen Tempos sehr träumerisch ohne verträumt zu wirken. Er versah es immer wieder mit kraftvollen Akzenten, wobei er die melancholische Grundstimmung durchgehend halten konnte. Beim Nocturne cis-Moll (Lento con gran espressione) spielt Chopin mit Selbstzitaten, insbesondere aus dem f-Moll-Klavierkonzert. Vom tastenden Beginn an entwickelte Say das Stück mit perlenden Läufen zu einer bezaubernden, fröhlichen Gesamtwirkung. Das Nocturne c-moll kommt zunächst sehr liedhaft daher. Wahrscheinlich stammt die Melodie von Maria Wodzińska, Chopins früherer Verlobter. Say spielte das schlichte, dennoch sehr poetisch anmutende Stück in sehr stimmigem Tempo und mit feinem Anschlag.
Von der Poesie zum Kampf: Beethovens Klaviersonate Nr. 23 f-Moll („Apassionata“) zeugt von ungeheuren Seelenqualen. Der Musikforscher Willibald Nagel sagte über das Werk: „Kampf von allem Anfang an, furchtbare, wilde Ausbrüche, ein riesenhaftes sich Aufbäumen gegen dämonische Gewalten, bitteres Weh eines zuckenden Menschenherzens.“ Fazil Say spielte dieses expressive Stück mit der Pranke eines wahrhaftigen Tastenvirtuosen. Dabei machte er die Virtuosität aber nie zum Selbstzweck, sondern stellte sie ganz in den Dienst des Ausdrucks. So wuchtig, so dramatisch und so eruptiv, wie Say diese Sonate ausführte, hat man sie selten gehört. Das Schicksalsmotiv der 5. Sinfonie scheint hier ebenfalls durchzuschimmern. Der 2. Satz „Andante con moto“ war bei Say keine Oase der Entspannung, man spürte stets das Trügerische dieser vermeintlichen Ruhe, die im Finalsatz dann von Say mit unerbittlicher Härte wieder fortgefegt wurde. Eine eigenwillige und begeisternde Wiedergabe!
Die Six Gnossiennes von Erik Satie sind reizvolle Miniaturen im Charakter von Salonstücken. Sie entstanden zwischen 1890 und 1899. Die ersten drei Stücke basieren auf einem immer ähnlichen Rhythmus, über den eine schlichte Melodie gelegt wird. Say sicherte der Musik einen ruhigen, entspannten Fluss, mal verspielt, mal leicht melancholisch. Die Gnossiennes Nr. 4 bis Nr. 6 haben etwas eigenständigeren Charakter. Die rhapsodisch gehaltene Nr. 4 überrascht mit einem humorvollen Schluss, die Nr. 5 kommt träumerisch und erst in dem letzen Stück werden auch kräftigere Akkorde angeschlagen. Say servierte all diese eher selten gespielten Stücke mit viel Charme und differenziertem Ausdruck.
„Gezi Park 2“ (Sonate für Klavier op. 52) ist der Mittelteil einer von Fazil Say komponierten Trilogie, mit der er die Demonstrationen im Istanbuler Gezi-Park im Jahr 2013 verarbeitet. Die beiden anderen Teile wurden bereits im Rahmen früherer Musikfeste aufgeführt.
„Gezi Park 2“ besteht aus vier Sätzen mit den Titeln „Von den Nächten des Widerstands in den Straßen von Istanbul“, „Von der Stille der Gaswolke“, „Von der Ermordung des unschuldigen Kindes Berkin Elvan“ und „Die Hoffnung bleibt immer in unseren Herzen“. Die Sätze gehen unmerklich ineinander über. Es ist eine sehr persönliche, aus dem Geist der Improvisation entstandene Musik, die den Ablauf von unruhigen, chaotischen Ereignissen vermittelt. Machtvolle Klangtürme werden aufgebaut, dann wieder glaubt man, Schüsse zu vernehmen. Aber auch ohne die Satzbezeichnungen zu kennen, kann man den emotionalen Gehalt der Musik und die persönliche Betroffenheit des Komponisten spüren. Oft werden die Anschläge mit der linken Hand hinter dem Steg gedämpft, oft werden fast hymnische Klänge entfacht.
Mit zwei Zugaben endete das Konzert: Zunächst das Nocturne Nr. 2 Es-Dur, dann Says eigene Jazz-Fantasie über „Summertime“ von Gershwin. Und die ist so raffiniert und pfiffig, dass sie auch einen begeisternden Höhepunkt des Abends markierte. (22.8.2017)
„La clemenza di Tito“ gehört nicht zu den populärsten Opern von Wolfgang Amadeus Mozart, aber auf jeden Fall – und das wurde in der Aufführung in der Bremer Glocke unter Teodor Currentzis mehr als deutlich – zu den gewichtigsten. Die Oper hatte in der Inszenierung von Peter Sellars und in der musikalischen Einrichtung von Teodor Currentzis bei den diesjährigen Salzburger Festspielen in der Felsenreitschule Premiere. Den Weg nach Bremen hat nur die „musikalische Abteilung“ geschafft. Currentzis präsentierte seine Fassung des „Tito“ mit seinem Orchester- und Chor-Ensemble musicAeterna nur konzertant.
Currentzis hat einige Eingriffe in die Partitur vorgenommen: er hat Arien und Szenen umgestellt, einige weggelassen und die Rezitative von Franz Xaver Süßmayer fast ganz gestrichen. Dafür hat er aus der Missa c-Moll KV 427 das „Benedictus“, das „Laudamus te“, das „Kyrie“ und das „Qui tollis“ an passenden Stellen eingefügt. Das funktionierte überraschend gut und gab keine Bruchstellen mit der „Tito“-Musik. Am Schluss fügte er nach dem jubelnden Finale noch die „Mauerische Trauermusik“ in einer Fassung für Chor ein. Das ist wahrscheinlich der Salzburger Inszenierung geschuldet, in der Tito am Ende stirbt.
Currentzis Lesart ist durchweg spannend und faszinierend, auch wenn seine Interpretation auch einige Eigenwilligkeiten enthält. Seine Tempi sind eine Achterbahnfahrt und bewegen sich zwischen Zeitlupe und Zeitraffer. Mit dem Einfügen von Generalpausen übertreibt er vielleicht ein wenig, aber den Spannungsbogen hält er bewundernswert durch. Nun ist der 1. Akt mit seinen wunderbaren Duetten und dramatischen Terzetten ohnehin etwas abwechslungsreicher als der 2. Akt, in dem sich eine lange Arie an die andere reiht. Gleichwohl – das atemberaubende sängerische Niveau lässt auch hier keinen Leerlauf aufkommen.
Das Orchester musicAeterna bewegt sich spieltechnisch auf höchstem Niveau und setzt die Vorstellungen von Currentzis, der mit vollem, oft tänzelndem Körpereinsatz dirigiert, punktgenau um. Die instrumentalen Finessen werden von dem im Stehen spielenden Orchester perfekt ausmusiziert. Prachtvoll ist auch der Chor, der besonders beim atemberaubend gesungenen „Qui tollis“ für Gänsehauteffekte sorgt.
Von der originalen Salzburger Sängerbesetzung sind nur Jeanine De Bique (Annio) und Willard White (Publio) mit nach Bremen gekommen. Aber die anderen Partien werden auch hier von erstrangigen Sängern gestaltet. An vorderster Stelle ist da die Mezzosopranistin Stéphanie d’Oustrac als Sesto zu nennen. Ihre Arie „Parto, ma tu ben mio“ mit obligater Klarinette (hervorragend gespielt von Vincenzo Casale) ist einer der vielen Höhepunkte. Wie sie aus introvertierter Lyrik dann die leidenschaftlichen Ausbrüche gestaltet, sorgt für Mozart-Glück auf Weltniveau.
Als Vitellia setzt Karina Gauvin ihren üppigen Sopran auch in der Behandlung des tiefen Brustregisters gekonnt ein. Anna Lucia Richter glänzt als Servilla besonders im eingeschobenen „Laudamus te“ mit silberheller Stimme. Der verdienstvolle Willard White kann als Publio mit noch immer ungebrochener Bassfülle beeindrucken. Mit sympathischer, lebenslustiger Ausstrahlung ist Jeanine De Bique ein emotionaler Annio mit strahlendem Sopran und müheloser Höhe. Die Titelpartie gestaltet Maximilian Schmitt mit ausdrucksvoll und mitunter expressiv geführtem Tenor.
Nach dem letzten Ton springt das begeisterte Publikum zu einer Standing Ovation auf und dankt für einen ungewöhnlichen, in seiner konsequenten Durchführung unvergleichlichen Abend. (25.8.2017)
Gleich zweimal ist Dee Dee Bridgewater beim Musikfest zu Gast: In der letzen Woche erwies sie zusammen mit Kurt Elling und dem Metropole Orkest in einem Open Air Konzert in Bremerhaven dem Genius George Gershwin ihre Reverenz, jetzt war sie mit ihrer eigenen Band im BLG-Forum in der Bremer Überseestadt und präsentierte die Songs ihres neuen Albums „Memphis…Yes, I’m ready“.
Es ist eine Hommage an ihren Geburtsort Memphis/Tennesee, wo sie zwar nur als Kleinkind drei Jahre gelebt hat, dem sie sich aber sehr verbunden fühlt. Bridgewater ist vor allem als eine der führenden Jazz-Sängerinnen unserer Zeit berühmt, etwa in der Nachfolge einer Billie Holiday oder einer Ella Fitzgerald. Aber sie beherrscht viele Stile, die von Kurt Weill über Musical bis hin zu französischen Chanson-Klassikern reichen. Und in jedem Bereich ist sie eine Meisterin ihres Fachs und erweist sich als eine der ganz Großen. Memphis nun ist ein Synonym für Blues und Soul, aber auch für Elvis Presley. Namen wie B. B. King, Otis Redding, Isaac Hayes, Margaret Ann Peebles oder die Staple Singers verbindet man mit Memphis.
Wenn die extrem schlanke Bridgewater mit ihrem kahlen Schädel, der großen Brille, dem kurzen Kleidchen und vor allem mit ihrem ansteckenden Lachen die Bühne betritt, ist man sofort fasziniert und gefesselt. Ihre Stimme hat viele Farben, kann einschmeichelnd, aber auch schneidend hart sein. Sie überzeugt als sanfte Balladensängerin ebenso wie als Shouter. „Giving up“ von Van McCoy etwa ist so eine mit dunklen Farben intonierte und kraftvoll gesteigerte Ballade. Auch „Yes, I’m ready“, der Titelsong des Albums, ist ein eher ruhiges Liebeslied, das zunächst zum Träumen einlädt, sich aber furios steigert. Nach ein paar Worten über die Situation der Schwarzen in den 60er Jahren und über Martin Luther King interpretiert sie das anklagende Lied „Why am I treated so bad?“ (von den Staple Singers) mit tiefer Emotion und „heiligem Zorn“. Der Song „B.a.b.y.“ (von Isaac Hayes) erweist sich als stimmungsmäßiger Kracher, bei dem Bridgwater entfesselt über die Bühne hüpft und das Publikum mit der Gewalt eines Tornados mitreißt – ein Lied, das im Stil auch zu den Supremes gepasst hätte.
Das gilt auch für „The sweeter he is“ (ebenfalls von Isaac Hayes). Von Elvis Presley finden sich „Don’t be cruel“ und „Hound Dog“ im Programm. Bei ersterem liefert sie sich einen hinreißenden Schlagabtausch mit dem hervorragenden Saxophonisten Bryant Lockhart, beim zweiten verwandelt sie Rock ˈnˈ Roll auf wunderbare Weise in reinsten Soul. Überhaupt ist es ein Markenzeichen von Dee Dee Bridgewater, dass sie Songs nicht einfach nur covert, sondern sie für sich adaptiert und in einer ureigensten Version serviert – so als hätte vor ihr nie jemand den jeweiligen Song gesungen. Einer der Höhepunkte ist „The thrill is gone“, das durch B. B. King berühmt wurde. Hier entfesselt Bridgewater ein wahres Happening von mindestens 15 Minuten Dauer, bei dem die Mitglieder der sechsköpfigen Band mit Soli glänzen (besonders herausragend der Gitarrist Charlton Johnson) und bei dem sogar sie mit Leuten aus dem Publikum tanzt. Die Band bekommt auch die Gelegenheit zu einem eigenen Lied und erweist sich als schlagkräftiges Ensemble von hervorragenden Solisten. Ergänzt wird die Formation von zwei Background-Sängerinnen, von denen eine (Romy Camerun) aus Bremen stammt und eingesprungen ist.
Pausenlose knappe zwei Stunden wirbelt Bridgewater über die Bühne. Sie ist ein Energiebündel mit einer unverwechselbaren, kraftvollen und ungemein ausdrucksvoller Stimme. Mit einer Verbeugung vor Otis Redding mit dem Song „Try a little tenderness“ und vor Prince, mit dessen Song „Purple rain“ sie noch einmal zu ganz großer Form aufläuft, endet ein enthusiastisch bejubeltes Konzert der Sonderklasse. (30.8.2017)
Das Konzert der Bremer Philharmoniker fand in diesem Jahr ohne Markus Poschner statt, der bekanntlich nach Linz gegangen ist. Der in Palma de Mallorca geborene Dirigent Antonio Méndez präsentierte ein unter das Motto „Bekennende Romantiker“ gestellte Programm mit Werken von Michail Glinka, Max Bruch und Peter Tschaikowsky. Méndez hat schon 2015 mit den Bremer Philharmonikern gearbeitet, ist für das Orchester also kein Unbekannter.
Die Ouvertüre zu Glinkas Oper „Ruslan und Ludmilla“ geriet mit sehr schnellem Tempo zwar schwungvoll, wirkte aber insgesamt etwas lärmend und zackig. Einen scharfen Kontrast dazu bildete das eher meditative „Kol Nidrei“ für Cello und Orchester von Max Bruch, das zwei hebräische Melodien variationsartig verarbeitet. Der Solist war Mischa Maisky. Allein seine Erscheinung ist ein Ereignis: Wenn er mit weißer, wallender Haarmähne und im blauen Seidenkittel die Bühne betritt, hat man den Eindruck, einem Guru zu begegnen. Seine ruhige Melodieführung und der warme, sonore Klang seines Cellos ließen die Musik geradezu singen. Méndez und das Orchester bewährten sich dabei als aufmerksame Begleiter, auch im Wechselspiel zwischen Cello und Orchester. Trotzdem bleibt die Frage, ob man nicht auch ein Werk eines russischen Komponisten für das Programm hätte finden können. Aber vielleicht war es Maiskys Wunsch, gerade dieses Stück zu spielen.
Die „Rokoko-Variationen“ für Cello und Orchester von Peter Tschaikowsky gaben Maisky Gelegenheit, eine breite Ausdruckspalette des Instruments vorzuführen. Das zu Beginn vorgestellte Thema wird in sieben Variationen verarbeitet, teils in sehr virtuoser Form, teils verspielt. Nach dem leisen Verdämmern der 6. Variation folgt ein jähes Erwachen mit einem fröhlichen Kehraus. Maisky meisterte die technischen Anforderungen brillant und erwies sich geradezu mit seinem Instrument als „Sänger“, wenn er die Kantilenen in purer Schönheit erblühen ließ. Bei der Zugabe, dem reizvollen Nocturne op. 19 Nr.4, kam nochmals elegischer Stimmung auf.
Wie Beethovens 5. Sinfonie wird auch die Sinfonie Nr. 4 f-Moll von Peter Tschaikowsky als „Schicksalssinfonie“ bezeichnet. Es ist dieses machtvoll einleitende und das gesamte Werk durchziehende Fanfarenmotiv, das diese Bezeichnung nahelegt. Méndez und die Bremer Philharmoniker musizierten den gewichtigen 1. Satz kraftvoll aus und gönnten den ruhigeren Passagen breiten Raum. Noch ausgewogener in Tempo und Dynamik gelang der 2. Satz, das „Andantino in modo di Canzona“. Gespenstisch kam das Pizzicato-Schero mit den grellen, fratzenhaften Einwürfen der Flöten daher. Im Finalsatz schließlich drehten die Bremer Philharmoniker wie entfesselt auf, schmetterten die ausgezeichneten Bläser wieder das Schicksalsmotiv und steigerten die Klangfluten zu einem furiosen Finale. (31.8.2017)
Der Dirigent Jérémie Rhorer und sein Orchester Le Cercle de l’Harmonie sind seit 2008 regelmäßig zu Gast beim Bremer Musikfest. Mit der konzertanten Aufführung von Mozarts „Don Giovanni“ in der Glocke haben sie nun ihr Meisterstück geliefert.
Wann hat man diese Oper zuletzt so inspiriert, so auf den Punkt musiziert und gleichzeitig so locker und komödiantisch und doch so dramatisch gehört? Der eher herbe Klang der historischen Instrumente bekommt dem „Don Giovanni“ besonders gut. Gleich die ersten Schläge der Ouvertüre machen es deutlich: hier geht es zur Sache. Rhorer und sein Orchester musizieren mit unglaublicher Intensität und tarieren die Balance zwischen „dramma“ und „giocosa“ immer wieder perfekt aus. Da bekommt jede Note, jede Arie und jede Szene das richtige Gewicht und die richtige Bedeutung. Die Emotionen der Figuren werden nicht nur von den Sängern, sondern auch vom Orchester aufs Feinste ausgeleuchtet. Und die Sängerbesetzung ist durchgehend phänomenal. Mit Jean-Sébastien Bou als Don Giovanni und Robert Gleadow als Leporello steht ein unschlagbares Duo auf der Bühne. Konzertant? Die beiden präsentieren ihre Partie mit schier überbordender Spielfreude. Sie „rocken“ die Bühne, was das Zeug hält – wie zwei Lausbuben, die sich an immer neuen Streichen ergötzen. Die fehlende Szenerie ist dabei schnell vergessen.
Beide Stimmen sind sich relativ ähnlich, sie könnten ihre Partien auch durchaus tauschen. Ob es die Registerarie, das Ständchen oder die Champagner-Arie ist: Bou und Gleadow interpretieren ihre Rollen gesanglich und darstellerisch einfach optimal. Vannina Santoni war als Donna Anna mit leuchtendem, höhensicherem Sopran kein leidendes „Rühr-mich-nicht-an“, sondern machte deutlich, dass unter der Oberfläche ein Vulkan lauerte – ein Vulkan, dessen Ausbruch Don Ottavio kaum überlebt hätte.
Den gab Daniel Behle (er sang als einziger aus den Noten) erkältungsbedingt eher vorsichtig und zurückhaltend. Aber seine beiden Arien „Dalla sua pace“ und „Il mio tesoro“ gestaltete er sehr kultiviert. Was Don Ottavio an Leidenschaft abging, brachte Arianna Venditelli als Donna Elvira dafür umso mehr ein. Ihr satter, manchmal abgedunkelter Sopran verfügt über eine aparte Klangfarbe. Herausragend war die für Wien nachkomponierte Arie „Mi tradi“. Catherine Trottmann (ein heller Mezzosopran!) war als Zerlina das dritte Objekt von Don Giovannis Begierde. Sie bezauberte mit Anmut und gab der Figur selbstbewusste Züge. Ihr angehender Gemahl Masetto, von Marc Scoffoni mit etwas engem Bariton verkörpert, dürfte bei ihr keinen leichten Stand haben. Und Steven Humes absolvierte als Komtur einen eindringlichen Auftritt, auch wenn man sich für die Partie einen etwas dunkleren Bass gewünscht hätte. Die eher kleineren Aufgaben des Chors wurden von der Vokalakademie Berlin in der Einstudierung von Frank Markowitsch bestens erfüllt. Ein großartiger Abend, der lange im Gedächtnis bleiben wird! (1.9.2017)
Kristjan Järvi und sein Absolute Ensemble sind seit 2002 regelmäßige Gäste beim Bremer Musikfest. Für das Programm „Musikfest Goes Overseas – Absolute Club” im BLG-Forum stoßen noch weitere Künstler dazu.
Das Konzert besteht aus zwei sehr unterschiedlichen und ungleichgewichtigen Sets. Den ersten (und wesentlich kürzeren) Teil bestreiten die norwegische Geigerin Mari Samuelsen und ihr zwölfköpfiges Streicherensemble. „Nordic Noir“ ist das Motto und vereint Werke des Isländers Olafur Arnalds („Words of Amber“), des Schweden Uno Helmersson („Timelapse“ und „Study in Rituals“) sowie des estnischen Komponisten Arvo Pärt („Fratres“). In „Words of Amber“ intonierrt Mari Samuelsen zunächst allein eine elegische Melodie, bevor ihr Ensemble die Solovioline mit einem sanften Klangteppich unterlegt. „Timelapse“ führt effektvoll vor, wie eine zarte Melodie in einen drängenden Rhythmus übergeht und bis zum abrupten Ende eine intensive Klangverdichtung erfährt. „Study in Rituals“ fesselt mit einer geheimnisvollen Stimmung, mit schwebenden Klangflächen, die dem dunklen Zauber der Natur nachspüren wollen. Man fühlt sich an Sibelius und die finnischen Wälder erinnert, bevor die Musik zu stampfendem Rhythmus wechselt und in ein gewaltiges Crescendo mündet. „Fratres“ für Streicher und Schlagwerk ist eine der bekanntesten Kompositionen von Arvo Pärt. Die im minimalistischen Stil gehaltene Musik wiederholt ein Thema in immer neuen Variationen. Mari Samuelsen und ihren Streichern gelingt eine eindringliche und intensive Wiedergabe, die an Klangfülle und Präzision mustergültig ausfällt.
Aber im Vergleich zum zweiten Teil ist „Nordic Noir“ nur eine Vorspeise. Es geht los mit Mr Switch (mit richtigem Namen Anthony Culverwell), seines Zeichens weltweit gefeierter DJ. Was er an seinen Plattenspielern an Samples und Scratches mit unglaublicher Virtuosität hervorzaubert, kann man nur bestaunen. Auch später mischt er noch seine Klänge unter die des Absolute Ensembles, aber das ist nur noch marginal. Denn das von Kristjan Järvi mit vollem Einsatz geleitete Ensemble beherrscht mit seinem Sound, mit seiner Spielfreude und seinem Drive einfach alles. Die drei Stücke von Gene Pritsker, dem Gitarristen des Ensembles, bringen Big-Band-Jazz allererster Güte. Da meint man, Erinnerungen an Lalo Schifrin oder bei einem Violineneinwurf an Stephane Grapelli aufblitzen zu hören, dann kommt die „Jazz Open Jam“ geradezu melodiös und poppig daher.
Zwei außergewöhnliche Pianisten sind zu Gast: Der Italiener Stefano Bollani präsentiert zwei eigene Kompositionen, bei denen er mit dem Wechselspiel zwischen Soloinstrument und Orchester fast dem Muster klassischer Klavierkonzerte folgt. Seine Musik ist melodisch und harmonisch, manchmal getragen und manchmal pulsierend und mit vorwärts drängendem Rhythmus. Sie erinnert ein wenig an Gershwin und ist einfach schön und entspannt zu hören.
Etwas ungestümer präsentiert sich der Luxemburger Francesco Tristano. Er präsentiert zwei Sätze aus seinem Klavierkonzert „Island Nation“ und spielt dabei oft im Stehen. Bei ihm sind Klavier und Orchester stärker ineinander integriert, oft ist das Klavier nur eine weitere Klangfarbe im Orchester. Aber die ausgesprochen jazzige und kraftvolle Musik geht ab wie eine geölte Maschine, der Klang überrollt einen wie eine Dampfwalze.
Die „Critical mass“ von Kristjan Järvi ist eine Uraufführung und knüpft mit ihren Motivwiederholungen in unendlicher Schleife etwas an Arvo Pärt an – fast wie Minimal Music, aber in vollsaftigem Sound. Die Bläser scheinen eine Kathedrale aus Tönen zu formen, die am Ende noch von Orgeltönen gefüllt wird.
Das Finale des Abends, in dessen Verlauf Järvi das Publikum immer wieder zum Mitklatschen animiert, entfacht Lebensfreude pur. Bollani und Tristano hämmern vierhändig in die Tasten, was das Zeug hergibt, Charlie Porter steuert ein fulminantes Trompeten-Solo bei und auch der DJ wird wieder aktiv. Über drei Stunden dauert die Fahrt dieses musikalischen D-Zugs, in den man am liebsten gleich wieder einsteigen würde. (2.9.2017)
Wenn ein deutscher Bariton und ein russischer Pianist, die beide absoluten und internationalen Star-Nimbus genießen, zusammen Liederabende gestalten, darf man getrost Ungewöhnliches erwarten. Eine solche Konstellation hat es schon früher gegeben – man denke etwa an Dietrich Fischer-Dieskau und Svjatoslav Richter. Nun haben sich mit Matthias Goerne und Daniil Trifonov zwei Ausnahmekünstler zu einem ungewöhnlichen Programm mit Liedern von Alban Berg, Robert Schumann, Hugo Wolf, Dmitri Schostakowitsch und Johannes Brahms zusammengefunden. Goerne und Trifonov gestalten den neunzigminütigen Abend ohne Pause, lassen auch keinen Beifall zwischen den Liedgruppen zu. Trotz der Vielfalt der Werke scheint der Abend aber nur eine Farbe zuzulassen: Tiefes Schwarz.
Gleich die „Vier Lieder op. 2 nach Gedichten von Friedrich Hebbel und Alfred Mombert“ machen klar, wohin die Reise des gesamten Abends geht – in hoffnungslose Düsternis. Der hier besungene Schlaf ist eine Metapher für den Tod. Goerne gestaltet klagend und expressiv. Mit der „Dichterliebe“ von Robert Schumann assoziiert man die schwärmerische, wenn auch unerfüllte Liebe eines jungen Poeten. Ganz anders stellt es sich in der Interpretation von Matthias Goerne dar. Gleich die beiden ersten Lieder „Im wunderschönen Monat Mai“ und „Aus meinen Tränen sprießen“ nimmt er in einem extrem langsamen, fast zerdehnten Tempo. Da bleibt nichts von der Freude aufkeimender Liebe, sondern nur qualvolle, resignative Erinnerung. Goerne gelingt es, der am Ende doch auch hoffnungsvollen und versöhnlichen „Dichterliebe“ die Stimmung einer „Winterreise“ aufzudrücken.
Das Konzept wird konsequent durchgehalten und mit reichhaltigem Ausdruck verdeutlicht. Goerne kann seine mühelos auch in Bassregionen vordringende Stimme mit imponierendem Volumen führen („Im Rhein, im heiligen Strome“), aber auch mit fahlen Farben versehen. Sehr berührend ist „Ich hab’ im Traum geweinet“ gelungen. Mit zarter Mezzavoce fasst er seinen Schmerz in „Hör’ ich das Liedchen klingen“ in berückende Töne. Daniil Trifonov ist erwartungsgemäß mehr als ein Begleiter. Er ordnet sich zwar der Gesangsstimme unter, wo immer es nötig ist, aber die bei der „Dichterliebe“ sehr ausgeprägten Nachspiele werden von ihm mit feiner, sensibler Empfindung modelliert und bekräftigen seinen gewichtigen künstlerischen Anteil.
Auch die „Drei Gedichte von Michelangelo“ von Hugo Wolf sind von fatalistischer Todessehnsucht geprägt. Über das Lied „Alles endet, was entstehet“ sagte Wolf, das Stück sei derart niederschmetternd, dass man Gefahr liefe, in den Wahnsinn getrieben zu werden. Eine Auffassung, die durch die Interpretation von Matthias Goerne unmittelbar nachzuvollziehen ist.
Die drei Auszüge aus der „Suite auf Worte von Michelangelo Buonarroti op. 145a“ von Dmitri Schostakowitsch knüpfen unmittelbar wegen des gleichen Textdichters an die Wolf-Gruppe an. Goerne singt die Lieder „Dante“, „Tod“ und „Nacht“ in russischer Sprache. Trotz der auch düsteren Thematik hinterlassen diese Lieder musikalisch einen etwas lichteren Eindruck. Das ausdruckvolle Melos der Kompositionen füllt Goerne mit geradezu belcantistischen Bögen aus und lässt seinen Bariton in dunklen, satten Farben strömen.
Den Abschluss bilden die „Vier ernsten Gesänge op. 121“ von Johannes Brahms. Goerne und Trifonov geben diesen Liedern Klarheit und Strenge, nicht aber ohne vor expressiven Ausbrüchen zurückzuschrecken. Bei „O Tod, wie bitter bist du“ weicht die Verzweiflung einer inneren Ruhe. „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete“ schließlich markiert in letzter Sekunde doch noch einen tröstlichen Ausblick. Dennoch – insgesamt ein Programm, das nichts für depressive Menschen ist, das in seiner Konsequenz und Kompaktheit einen tiefen, bezwingenden Eindruck hinterlässt und auch keinen Raum für eine Zugabe bietet. (4.9.2017)
Populärer geht es kaum: Mit der Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 55, der „Eroica“, sowie dem Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll op. 37 von Ludwig van Beethoven standen gleich zwei der beliebtesten Werke des Klassik-Kanons auf dem Programm der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Aber kompetenter geht es auch kaum: Die Kammerphilharmonie hat mit den Beethoven-Sinfonien in ihren Konzerten und mit ihrer CD-Einspielung unter Paavo Järvi weltweit für Furore gesorgt. Nun stand diesmal nicht Paavo Järvi am Pult, sondern der amerikanische Dirigent David Zinman. Auch Zinman hat in seinem Beethoven-Projekt mit dem Orchester der Tonhalle Zürich vor zwanzig Jahren eine maßstäbliche Einspielung aller Beethoven-Sinfonien vorgelegt.
Doch zunächst gehört Igor Levit, dem Solisten des Abends, mit der Sonate für Klavier Nr. 21 C-Dur op. 53, der „Waldstein“-Sonate, die Bühne allein. Levit erweist sich als technisch brillanter Virtuose, der tief über das Klavier gebeugt spielt und mit diesem fast verwachsen scheint. Die Hast und Unruhe des Kopfsatzes setzt er mit schnellem Tempo und kraftvollem, manchmal fast ruppigem Ansatz um. Die dynamische Spannweite geht dabei etwas verloren. Das kurze „Adagio molto“ geht er dafür „in Zeitlupe“ eher vorsichtig tastend und suchend an, wobei er anscheinend jeder einzelnen Note eine tiefe Bedeutung geben will. Dadurch zerfällt der Satz und büßt seine Kontinuität ein, die sich erst im liedhaften Beginn des 3. Satzes wieder einstellt. Beim immer wieder mit erregendem Rhythmus durchsetzen Finale zeigt sich Levit als veritabler Virtuose, der mit kraftvollem Anschlag und perfekter Geläufigkeit überzeugt.
Beim Klavierkonzert Nr. 3 ist Levit in die Vorgaben von David Zinman eingebunden. Zinman lässt dem Pianisten durchaus Freiräume, aber die gesamte Disposition in Bezug auf Tempo und Dynamik bestimmt der Dirigent, der das Eingangsthema gewichtig ausmusiziert, bevor es von Levit aufgegriffen wird. Insgesamt gelingen Zinman und Levit eine Wiedergabe, die Extreme meidet und in jeder Beziehung ausgewogen ist. Das Wechselspiel zwischen Klavier und Orchester wird partnerschaftlich gestaltet, die Musik kann sich organisch und in purer Schönheit entfalten. Zwar zerdehnt Levit in der Kadenz wieder etwas, aber dem Largo gibt er eine meditative Stimmung und lässt die Musik in ruhigen Bahnen fließen. Auch der Finalsatz mit seinen markanten Paukenschlägen hält das hohe Niveau. Levit spielt seinen Part mit perlenden Läufen und betont die fröhliche Grundstimmung dieses Satzes. Als Zugabe spielt Levit zwei Stücke aus den Kinderszenen von Robert Schumann.
Dass sowohl Zinman wie auch die Deutsche Kammerphilharmonie „ihren“ Beethoven perfekt beherrschen, zeigt sich auch in der Wiedergabe der „Eroica“. Mit wuchtigen Schlägen und großer Geste präsentiert Zinman, der im Sitzen dirigiert, den Kopfsatz. In glänzender Form zeigen sich die Holz- und Blechbläser. In Zinmans Interpretation bekommt der Trauermarsch („Marcio funebre. Adagio assai“) des 2. Satzes eine zentrale Bedeutung. Wie Zinman diese Musik aus dem Piano entwickelt und mit fein abgestimmter Dynamik zur großen Steigerung (und wieder zurück!) führt, ist wie aus einem Guss und schlicht grandios. Beim tänzerischen Scherzo sind die sich bestens bewährenden Hörner gefragt. Den kontrapunktisch angelegten Variationen des im Pizzicato eingeleiten letzten Satzes gibt Zinman individuelle Prägung und steigert den Satz zu einem majestätischen und schwungvollen Finale. Das Thema des Satzes findet sich auch in Beethovens „Die Geschöpfe des Prometheus“ – folgerichtig erklingt die Ouvertüre dazu als Zugabe. Uneingeschränkter Jubel! (5.9.2017)
Wolfgang Denker, 6.9.2017
Foto Fazil Say von Marco Borggreve
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Foto Matthias Goerne von Marco Borggreve
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Foto David Zinman von Priska Ketterer
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