Bayreuth: „Tristan und Isolde“, Richard Wagner

Mit Roland Schwabs Bayreuther „Tristan“ ist es ein bißchen so wie bei den Provisorien, die bekanntlich am längsten halten: Als Ersatzproduktion im vorigen Jahr in halsbrecherischen vier Wochen realisiert, sollte die Inszenierung den möglichen, Corona-bedingten Ausfall einer an Mitwirkenden reicheren Vorstellung auffangen. In einem Interview mit dem Bayrischen Rundfunk im vergangenen Jahr bekannte Schwab: „Es war crash-mäßig, aber das liebe ich. Ich funktioniere als Regisseur so, daß ich in kurzer Zeit Konzepte entwickeln kann – und manchmal sind die nicht schlechter, als wenn man drei Jahre Zeit hat. Bei viel Zeit hat man ja auch viel Zeit für Zweifel“.

Keine Zweifel hat auch das Publikum am 3. August im Festspielhaus, als es die Neuauflage dieses „Tristan“ stürmisch bejubelt. Es ist in diesem Bayreuth-Sommer mit seinen hysterischen Buh-Stürmen ja schon die Ausnahme, wenn auch das Regieteam den verdienten Beifall einheimst.

Und jeder Zweifel am Miteinander bis ans tödliche Ende ist zwischen den beiden Protagonisten endgültig geschwunden, als sie den eigentlich falschen, aber handlungsfunktional richtigen Trank teilen. Der Begriff der Handlungsfunktionalität ist immer dann angeraten, wenn der Realität nachgeholfen werden muß, um an ein Ziel zu gelangen, das respektive der Ausgangssituation eigentlich unwahrscheinlich erscheint. Aber was ist denn an der Liebe, gar der unsterblichen, denn schon realistisch, im Sinne von „nüchtern“ oder „wirklichkeitsnah“? Und so war der Liebestrank eigentlich schon immer nicht mehr als eine Reminiszenz an die mittelalterlichen Verarbeitungen des Stoffes, allen voran Gottfried von Straßburgs „Tristan“, denn die Geschichte funktioniert für alle, die wirklich wissen, was unbedingt zu lieben heißt, auch ohne allen Minnezauber durch gut gemischte Kräuter.

© Enrico Nawrath

Niemand auf Erden – und der Rezensent ist eher vorsichtig mit Superlativen – hat allerdings tiefste Sehnsucht, das Ineinander-Verschmelzen in geradezu religiöser Dimension, ja das Auflösen des Ich in eine diffuse, glückergießende Universalität so in Musik gefaßt wie Richard Wagner in seinem „Tristan“. Die unio mystica von Leib und Seele – nein! – beiden Leibern und beiden Seelen in ein überhöhtes Sein, das weder Raum noch Zeit kennt, ist ein seltenes Geschenk, das Liebenden die innere Schau in einen Bereich gewährt, der fernab liegt von bloßer körperlicher Vereinigung, deren Benennung als Sexualität nichts davon ahnen läßt, was erfahrbar ist, wenn man wirklich und bedingungslos liebt.

Und das schafft Wagner in derjenigen seiner Opern, der man musikalisch und inhaltlich einfach nichts vorwerfen kann, keine peinliche Tümelei, kein übersteigertes Sendungsbewußtsein, kein pathetisches Heldentum oder die Instrumentalisierung einer Erlöserin zur eigenen Rettung. Es ist das glühende Bekenntnis zur grenzenlosen Hingabe an die Ich-Überwindung, die eben dies nicht denken muß, sondern sich im reinen Fühlen und tieferen Wissen ins Universum entläßt.

Daher sollte, neben dem „Parsifal“ mit seinen Reminiszenzen an Buddhismus und Hinduismus, auch in dieser Oper der Einfluß buddhistischer Inhalte auf Wagners Schaffen größere Beachtung finden, denn er spricht in diesem Zusammenhang vom „Ein-Bewußtsein“, worunter er eine überindividuelle, höhere Bewußtseinsebene, also eine in der Liebe erreichte Transzendenz in religiöser Qualität versteht. Haß und Ego werden überwunden und in eine universal umfassende Einheit transformiert. Das ist schon eine Ahnung vom Nirwana, von der Auflösung der Individualität und dem ich-bezogenen Wollen – es herrscht nur noch glückseliges Sein ohne Müssen und Streben. Isolde weiß, daß Leben und Tod der Liebe „untertan“ sind und Tristan beschwört das Aufgehen in der Liebe: „ewig einig, ohne End‘, ohn‘ Erwachen, ohn‘ Erbangen, namenlos in Lieb‘ umfangen, ganz uns selbst gegeben, der Liebe nur zu leben!“

In einem der großartigsten Duette der Opernliteratur, „O sink hernieder, Nacht der Liebe“, wird diese einer Gottheit gleich angerufen: „Gib Vergessen, daß ich lebe; nimm mich auf in deinen Schoß, löse von der Welt mich los!“, und zwar „ewig endlos, ein-bewußt“.

Wie schafft man es, diese sakrale Feier der transzendierten Sinnlichkeit inszenatorisch angemessen umzusetzen, ohne auf Pathos, Plakativität oder die Darstellung peinlicher Sexszenen zurückzugreifen? Roland Schwab ist ein Meister der Andeutung und des „was wäre, wenn?“; er vertraut, unterstützt von der einfühlsamen Dramaturgie von Christian Schröder, der Wirkung dieser universal verständlichen Musik und der Phantasie des Publikums.

© Enrico Nawrath

Im ersten Aufzug ist die Szenerie im genial auf das Wesentliche reduzierte Bühnenbild von Piero Vinciguerra auf den ersten Blick noch ganz eindeutig, denn sie spielt um den Pool auf einem Luxuskreuzer herum. Daß dieses kreisrunde Becken, das die Form der Raumöffnung nach oben hin aufnimmt und im Bühnenrund weitergeführt wird, kein einfaches Wasserbehältnis in der Wellness-Lounge ist, wird klar, als sich der Inhalt zunehmend rot färbt, in der Farbe des Blutes, des Lebens. Schien dieser Pool da noch trennend-unüberwindlich, so überschreiten die beiden Liebenden, nachdem sie einander im biblischen Sinne erkannt haben, dieses Rund, um zueinander zu kommen. Ob man in der Kreisform das Symbol der Vollkommenheit erblicken mag, sei dahingestellt.

Zuerst könnte man – desgleichen biblisch – an das wundermäßige Gehen auf dem Wasser denken, aber schnell wird deutlich, daß in diesem Zentrum klar, aber unaufdringlich das dargestellt wird, was sich im Inneren der beiden Seelen abspielt.

Es ist bald der wirbelnde Strudel der bedingungslosen, unentrinnbaren Liebe, in den Tristan und Isolde hineingezogen werden, bald spiegelt sich der Sternenhimmel als Sinnbild des Universums darin. Im zweiten Aufzug das Paar liegt das Paar darauf und es muß sich gar nicht in wilder Leidenschaft wälzen, sondern die beiden liegen einander gegenüber und – träumen! Ein Fellini-Zitat aus dem Interview mit Schwab im Programmheft gibt dazu Aufschluß: „Die Träume sind genauso wirklich wie das reale Leben. Der Mensch ist nicht nur das, was er lebt, sondern gleichermaßen das, was er träumt.“ Die irrlichternden Funken auf der Fläche mögen diejenigen wiedererkennen, die, um die letzten Worte des Dramas aufzunehmen, „höchste Lust“ in der Verbindung von körperlicher Hingabe und tiefster Liebe empfunden haben. Mehr muß nicht dargestellt werden und so ist die Lichtregie von Nicol Hungsberg entsprechend zurückhaltend, aber intelligent und darin umso effektvoller.

Das bewegte Bild des Wirbels wird später wiederaufgenommen und zwischendrin zeigt sich die Iris eines Auges mit der Pupille als schwarzes Loch der unentrinnbaren Anziehung alles Dinglichen und Transmateriellen; dann wird dieses Auge das des Taifuns einer Unbedingtheit, die mit konzentrisch wirkender Gewalt nichts mehr ins Profane entfliehen läßt.

Die Verdunklung dieser Projektionsfläche in der Entdeckungsszene – Melot erspäht schon zuvor mit sichtbarer Eifersucht die Liebenden – ist nur ein Zwischenspiel mit Verhörcharakter. Die bergende Dunkelheit der Liebesnacht wird vom Licht des Scheinwerfers durchschnitten, den Melot mal auf Tristan, mal auf Isolde richtet. Dem vom Schmerz über den Verrat erschütterten Marke ist das sichtlich unangenehm; er hat solche Gestapo- oder Stasi-Methoden nicht nötig. Weiße Neonröhren durchstechen von oben die Szenerie und ihre gedachten Fortführungen durchbohren Tristan auf dem Verhörstuhl. Da muß kein plakatives Bühnenblut fließen.

Letztlich siegt die Liebe über das individuelle Sein und irdische Vergehen, und zwar sowohl im zeitrelativierenden Jetzt der subjektiven Empfindung als auch in ihrer ewigen Wiederkehr in all den Paaren, die sich finden und zueinander stehen bis ans Ende der Zeiten. „Mir erkoren, mir verloren“, das weiß Isolde schon zu Beginn der ganzen Geschichte über Tristan und damit ist die Idee der Vorbestimmtheit in Worte gekleidet.

© Enrico Nawrath

Schwab entwirft in einem unaufdringlichen, aber wirkungsvollen Einfall durch ein Parallelpaar das, was hätte sein können und rekurriert bei aller Dramatik des leidvollen Geschehens mit den vielen Toten am Schluß auf die zahlreichen glücklichen Ausgänge von in sich stets einzigartigen Liebesgeschichten. Schon zum Vorspiel sitzen ein Bub und ein Mädchen eng aneinander gelehnt auf der Bühne, später werden sie als Jugendliche oberhalb der Liebesszene mit den Protagonisten auf dem balkonartigen Rund, von dem grüne Ranken hängen, stehen und den Sternenhimmel betrachten. Und ganz am Ende beschließen die beiden als liebenswertes altes Paar, das, was sichtbar ist. Hörbar sind nur die letzten Klänge der denkbar wundervollsten Musik. Wer jetzt keine Tränen in den Augen hat, ist ein grober Klotz.

Wagner spricht 1860, also kurz nach Fertigstellung von „Tristan und Isolde“, von der „unendlichen Melodie“. Das steht selbstverständlich für die Unendlichkeit der Liebe und folgerichtig hat Schwab in seiner Inszenierung die eingangs angesprochenen buddhistischen Aspekte aufgenommen. „Shashvatam“ steht auf Sanskrit neonrot-leuchtend die ganze Zeit am linken unteren Bühnenrand. Der Begriff ist in der Presse mit „ewig“ wiedergegeben worden, aber treffender ist die Übersetzung „für immer“ (ein herzlicher Dank dafür an die Indologin Dr. Ulrike Teuscher!), denn das entspricht viel besser der schicksalhaften Vorbestimmtheit und dem gegenseitigen Versprechen der beiden.

Die „unendliche Melodie“ und alles, was sie einbettet, gibt das Festspielorchester unter dem sensiblen Dirigat von Markus Poschner transluzid wieder, ganz entsprechend dem lichtblauen Himmel im ersten Aufzug. Sehr selten und kaum erwähnenswert gibt es leichte Inkohärenzen mit den Solisten; die Musik entfaltet sich in gebotener Feinfühligkeit. Gerade die Flöten und Holzbläser intonieren die Zartheit der Partitur. Das Blech spielt fabelhaft und fernab sonst oft gehörter pathetischer Dominanz, Poschner hält den großen Klangkörper ohnehin immer zugunsten der Solistinnen und Solisten zurück.

Allen voran muß hier die Leistung von Catherine Foster gewürdigt, nein bewundert werden. Von der ersten Note an schont sie sich nicht und entwirft mit ihrem durchdringenden Sopran das Bild einer starken Frau, die weiß, was und wen sie will. Man mag sich nicht mit ihr anlegen, denn ihre Resolutheit ist durchweg durch einen bruchlosen, kraftvollen Gesang zu erfahren. Ohne Ansätze schwingt sie sich in phantastische Höhen, weiß aber auch den zarten Empfindungen Ausdruck zu geben. Sie singt den Text nicht einfach, sie formt ihn plastisch, was ihr gerade in ihrem letzten, dem Verklärungsmonolog ergreifend gelingt. Die Natürlichkeit der Diktion schafft eine Direktheit der Vermittlung.

An zweiter Stelle gilt der bedingungslose Beifall Georg Zeppenfeld als König Marke und es gehen einem ja bald die Adjektive aus, um dessen Bayreuth-Auftritte gebührend zu feiern. Ein erneutes Mal begeistert seine kristallklare Diktion, vereint mit einem warmen, vollen Ton, der tief in eine verwundete Psyche blicken läßt. Beim Ende seines anklagenden Monologs, nämlich den Worten, „Den unerforschlich tief geheimnisvollen Grund, wer macht der Welt ihn kund?“, kann man die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören, denn ausnahmslos alle hängen gebannt an Zeppenfelds Lippen. Ein Phänomen, dieser Mann!

© Enrico Nawrath

Weshalb sein Anzug, ähnlich wie der Kurwenals, Okapi-artige Streifen hat, ist nicht ganz klar; vielleicht soll es die versuchte Verbindung vom nächtlichen Schwarz zum lichten Weiß andeuten. Insgesamt sind die Kostüme von Gabriele Rupprecht aber, der Produktion angemessen, meist zurückhaltend und zeitlos.

Clay Hilley mag kein Jahrhundert-Tristan sein, aber die Rolle ist auch bekanntermaßen mörderisch. So schont er sich im ersten Aufzug – gegen Catherine Foster anzusingen, ist auch eine echte Aufgabe! – und gerade in den sanften Passagen bildet er einen empfindsamen Liebenden voller Sehnsucht und Nähe. Ein paar Buh-Rufe nach dem zweiten Akt sind unangemessen, sollen aber wohl die Forderung nach „mehr“ unterstreichen. Das Textverständnis ist bei ihm eher dürftig, aber dafür läßt er sein Liebesversprechen in den wesentlichen Passagen glaubhaft leuchten. Im finalen Aufzug steigert er sich zu seiner Höchstform.

Brangänes freundschaftlich-mütterliche Art weiß Christa Mayer mit aller Wärme umzusetzen; die Mezzosopranistin beherrscht ja auch das Alt-Spektrum, was Rolle und Stimme eine dunkle, sympathische Färbung verleiht.

Als Kurwenal ist Markus Eiche ein wahrer Freund mit hellklingendem Bariton, der aber auch echte Wut greifbar macht, wenn es darum geht, Melot ein für alle Mal aus der Welt zu schaffen. Den gibt Olafur Sigurdarson, ein eifriger und vor allem eifersüchtiger Diener nicht nur seines Herrn, sondern auch seiner eigenen Gefühle für Isolde.

Beim langen Beifall mit viel Fußgetrappel, bei dem man sich schon Sorge um den altehrwürdigen Bretterboden machen muß, werden schließlich alle Mitwirkenden dieser überzeugenden Produktion enthusiastisch und verdientermaßen gefeiert.

Was bei diesem Publikum erneut staunen macht, ist die Tatsache, daß es immer noch Leute gibt, die erst beim Beginn des Vorspiels merken, daß sie in die falsche Reihe gelaufen sind. Auch bimmelt ein Mobiltelephon in der Liebesszene. Was mag das Bild auf dem Vorhang mit dem durchgestrichenen Handy wohl bedeuten? Es gibt ein Wort, das Knappertsbusch an dieser Stelle benutzt hätte. Und weshalb müssen in den Piano-Stellen immer Gegenstände auf den Biden geschmissen werden?

Aber gerade die zahlreichen Kinder benehmen sich vorbildlich und sind mit Anzügen und Kleidchen fesch herausgeputzt. Unter den Erwachsenen gibt es nur wenige, die meinen, mit Freizeithemden und ausgewaschenen Jeans sich als besonders lässig darstellen zu müssen. Vielleicht machen sie sich aber auch gar keine Gedanken darüber, zudem kennen viele nicht den Grundsatz „keine braunen Schuhe nach 18 Uhr“. Nun wollen wir nicht päpstlicher sein als der Papst im „Tannhäuser“, aber ein bissel Würdigung des genius loci darf´s schon noch sein.

Wem beim Finale noch Zweifel an der universalen, transreligiösen Liebes-Glaubensbotschaft in dieser einzigartigen Oper verbleiben sollten, muß sich nur Isoldes letzte Worte ins Herz sinken lassen: „In des Welt-Atems wehendem All – ertrinken, versinken – unbewußt – höchste Lust!“

Und nein, das ist nicht „Isoldes Liebestod“; so nannte Wagner nämlich das Orchestervorspiel zum ersten Aufzug. Die in den Kosmos der Erlösung strahlenden Klänge bezeichnete der Komponist als „Isoldes Verklärung“ und verwendet damit also einen religiösen Begriff, der die Transfiguration eines Menschen in einen höheren, gottähnlichen Zustand beschreibt.

Wie war das nochmal – Wagners „Tristan“ kann man nichts vorwerfen? O doch – die Musik macht süchtig!

Andreas Ströbl, 4. August 2023


Richard Wagner: Tristan und Isolde

Festspielhaus Bayreuth

Besuchte Vorstellung: 3. August 2023

Musikalische Leitung: Markus Poschner
Inszenierung: Roland Schwab
Orchester der Bayreuther Festspiele