Der Regisseur Josef E. Köpplinger hat das Stück im einfachen, aber grandios funktionalen Bühnenbild von Rainer Sinell und mit den stimmigen Kostümen von Uta Meenen geradezu soghaft und mit herausragender Personenführung umgesetzt. Das Lichtdesign von Andreas Enzler ist phänomenal, indem es mittels Spotlights von oben den Blick auf die Handelnden fokussiert. Und da lohnt es sich, genau hinzuschauen, denn Regisseur und Cast entwickeln die Figuren mit bestechender Genauigkeit, da stimmt schlicht und einfach jede Geste, jede Regung der Gesichtszüge und jeder Blick – bei allen, inklusive den Mitgliedern des stilbewusst singenden und packend agierenden Chors des Theaters St. Gallen (Choreografie und Co-Regie: Regina Ludigkeit, Choreinstudierung: Franz Obermair). Auch wenn das Bühnenbild nicht überladen ist, entsteht eine bezwingende atmosphärische Dichte und die technisch komplexen Abläufe der schnellen Szenenwechsel mittels Drehscheibe, Zwischenwänden und der verschiebbaren, multifunktionalen Passerelle funktionieren mit bestechender Perfektion.
Wie vor 16 Jahren in St. Gallen steht erneut Koen Schoots am Pult des Sinfonieorchesters St. Gallen. Es ist natürlich wunderbar, ja geradezu ein Luxus, diese unsterblichen Melodien und die kunstvolle Orchestrierung Schönbergs von einem ausgezeichneten, aufeinander eingespielten Orchester zu erleben. Schoets lässt nach eigenen Aussagen im Programmheft die Musik viel geduldiger atmen als bei seinem Dirigat vor 16 Jahren. Zu Recht vertraut er auf die fantastischen Bögen und die kunstvollen Ensembles, welche Schönberg konzipiert hatte. Als Beispiel soll nur das Finale I erwähnt werden: Wie Claude Schönberg dieses Finale aus einem opernhaften Concertato (Jean Valjean, Cosette, Marius, Éponine) aufbaut, die diversen Erinnerungsmotive in einen überwältigenden Tutti-Chor aufgehen und aufblühen lässt, ist ein Kulminationspunkt musiktheatralischen Schaffens.
Dies alles entfaltet selbstredend nur dank eines exzellenten Ensembles seine volle Wirkungskraft. Gesungen und agiert wird auf allerhöchstem gesangstechnischem Niveau und einem totalen darstellerischen Aufgehen in der jeweiligen Rolle – und zwar von den Hauptpartien bis zu den Statisten der Statisterie des Gärtnerplatztheaters München. Die Rolle des Jean Valjean ist wohl eine der umfangreichsten und gesanglich anspruchsvollsten der gesamten Musicalliteratur. Armin Kahl bewältigt sie mit unfassbar vielschichtiger und bis ins Falsett wunderbar sicher geführten Stimme – ereignishaft. Filippo Strocchi als sein ihn über Jahrzehnte verfolgender Gegenspieler Javert begeistert mit tiefgründiger Ausdruckskraft und sehr angenehmem Timbre, hinter dem er seinen unerbittlichen Verfolgungswahn versteckt.
Seine Szene vor dem Suizid, wo er sein Innerstes preis gibt und sein Scheitern eingesteht, geht unter die Haut. Wietske van Tongeren ist eine anrührende Fantine; wie von ähnlich armen Menschen ihre Notlage ausgenützt wird, sie in die Prostitution gezwungen (man erlebt in dieser Szene auch männliche Prostituierte, die ihren Körper den Matrosen anbieten) und zutiefst gedemütigt wird, macht betroffen. Jogi Kaiser und Dagmar Hellberg machen aus dem Wirtepaar Thénadier ein darstellerisches und gesangliches Kabinettstück: Wie herrlich ordinär sind die beiden; durchtriebene, gemeine und abgrundtief charakterlich „hässliche“ Figuren – und doch umwerfend komisch. Kristine Emde (Cosette) und Barbara Obermeier (Éponine) gestalten ihre großen Partien mit anrührenden, wunderschönen Sopranstimmen. Thomas Hohler singt den Marius mit herrlich reinem Tenor. Merlin Fargel ist ein charismatischer Anführer der Studenten; ein mitreißend singender und blendend aussehender Enjolras (er verkörpert auch weitere Rollen, wie Sträfling, Matrose, betrunkener Majordomus) Der Knabe Gavroche, Bruder Éponines und Sohn der Thénadiers, wird vom Sechstklässler Kio Bruderer mit stupender Selbstverständlichkeit und faszinierender Bühnenpräsenz dargestllt und gesungen. Das gilt auch für die beiden Mädchen Sofia Cecchini (Kleine Cosette) und Charlotte Auerbach (Kleine Éponine). Ein besonderes Lob gilt Jeremy Boulton, der als Bischof Myriel und in mindestens fünf weiteren Rollen aufhorchen lässt.
Ein weiters grosses Lob verdient auch die Tontechnik (Marko Siegmeier und Nicolai Gütter-Graf): Absolut perfekte Balance zwischen den mit Mikroports unterstützten Stimmen und dem Orchester, nie übersteuert, nie zu laut!
Fazit: Wer das Musical, sollte unbedingt hingehen, wer es schon kennt, ist eh süchtig danach und wird diese wunderbare, herausragend interpretierte und zu Herzen gehende Neuproduktion sicher nicht verpassen wollen. Man verlässt das Theater St. Gallen gepackt, berührt und zutiefst ergriffen. Was für ein bewegendes Erlebnis!
Kaspar Sannemann, 12. Dezember 2023
Les Misérables
Claude-Michel Schönberg (Musik)
Alain Boublil (Libretto nach dem Roman von Victor Hugo)
Theater St. Gallen
Koproduktion mit dem Gärtnerplatztheater in München, Premiere folgt dort im März 2024
9. Dezember 2023
Inszenierung: Josef E. Köpplinger
Musikalische Leitung: Koen Schoots
Sinfonieorchesters St. Gallen