Carmen arbeitet nicht in einer Tabak-, sondern in einer Waffenfabrik, Escamillo ist kein Torero, sondern ein Rodeo-Held, und die Geschichte spielt nicht in Sevilla im 19. Jahrhundert, sondern hier und heute in den USA, irgendwo an der mexikanischen Grenze, man muss schleßlich den Schmuggel rechtfertigen.
Die Metropolitan Opera hat eine neue „Carmen“ der britischen Regisseurin Carrie Cracknell, die eine Regietheater-klassische „Übersetzung“ des Milieus lieferte und bei der amerikanischen Presse einiges Karacho verursacht hat. Nannten die einen es eine „wagemutige“ Produktion, fanden andere den gebotenen „big mix up“ frustrierend und bezeichneten es sogar die größte Enttäuschung seit langem. Dem darf man als europäischer Betrachter, der normalerweise die Nase von „Regietheater“ gestrichen voll hat, entgegen setzen, dass man schon lange keine so spannende Aufführung gesehen hat wie diese…
Wieso? Weil die Regisseurin ihr Konzept bis ins kleinste durchdacht hat. Gewiß, dass das, was gesungen wird (der Text nämlich) vorn und hinten immer wieder nicht mit dem übereinstimmt, was man sieht – ja, das erlebt man immer wieder, und es war schon schlimmer als hier. Denn wenn Carrie Cracknell die Geschichte auch für ein amerikanisches Publikum „herholt“, das möglicherweise mit spanischer Folklore nichts anzufangen wüsste (wenn sie auch viel schöner anzusehen wäre), so bleibt die Geschichte von Carmen und José doch voll erhalten. Sie ist nur in das Ambiente der Waffenfabrik (die man anfangs für ein Gefängnis halten wurde) und eines riesigen Schmuggler-Lastwagens eingefügt. Man sieht ihn anfangs nur von vorne, dann gibt es keinen Lillas Pasta, sondern das Innere des Wagens – und wenn sich dann als Ort der Liebesbegegnung zwei Tankstellen-Zapfsäulen manifestieren, auf denen sich Carmen verdammt erotisch räkeln darf – dann ist das auch eine szenische Idee.
Die Met-Aufführungen sind für ein Publikum, das sich ein wenig dafür interessiert, was hinter den Kulissen passiert, auch deshalb so aufschlussreich, weil man in den Umbaupausen zusehen darf, was da auf der Bühne passiert, wie eine Unzahl von Arbeitern etwa den zweifellos enorm schweren Bus dreht, der denn im dritten Akt umgefallen auf der Bühne liegt. Erst am Ende hört seine Präsenz auf.
Denn da hat sich Bühnenbildner Michael Levine mit einer ausgebauten, stufenförmigen Arena mehr ausgedacht, als sonst für den letzten Akt „Carmen“ geboren wird – und er führt eine Idee fort, die nicht total überzeugt, aber zumindest originell und herausfordernd ist. Ein Hintergrund aus zahllosen parallelen Leuchtstoffröhren verbreitet jene Lichtspiele, mit man erleben kann, wenn man schnell auf Autobahn fährt, wenn die Lichter nur so vorbei zischen. Bis man diese „Road Movie“-Sequenz richtig versteht und würdigt, vergeht etwas Zeit, die Lichter spielen dann auch in anderen Farben mit, und letztendlich verbreiten sie mehr Unruhe als Stimmung. Aber man kann wirklich nicht sagen, dass dieser Inszenierung optisch nichts eingefallen wäre. Und inhaltlich zeichnet sie die Geschichte nach.
Das Abenteuer des Abends bestand für den Wiener Opernfreund in der Begegnung mit Aigul Akhmetshina. Die 27jährige mit dem typisch slawischen Gesicht studierte in Ufa (Baschkortostan, Russland) und ist trotz ihrer Jugend bereits international unterwegs. Wer sie letzten Sommer bei den Salzburger Festspielen als Romeo in Bellins „Capuleti“ gehört hat, bescherte ihr eine sehr gute Nachrede. Und die Carmen, die sie bereits landaus, landein singt, macht ihr – jedenfalls in dieser Inszenierung – derzeit so schnell niemand nach. Das liegt zu allererst an der Qualität der Stimme – ein echter Mezzo, der nie hell wird, aber in allen Lagen mit gleicher Kraft und Sicherheit präsent ist, von den strahlenden Höhen bis dramatische Tiefen. Getragen wird die Stimme von einer unteren Mittellage mit herrlichem Timbre.
Darüber hinaus ist sie eine hoch begabte Schauspielerin, die mit ihrem Gesicht und ihrem Körper jede Nuance ihrer Stimmungen vermitteln kann – wobei dieser Körper auch schonungslos eingesetzt wird, um die Erotik Carmens auszuspielen (ohne je ordinär zu werden wie die Wiener Premieren-Besetzung in der Bieito-Aufführung). Diese Carmen ist in den ersten beiden Akten einfach mutwillig, fängt sich José aus Lust und Laune ein, wird aber ab dem dritten Akt ernst, wirklich düster ahnungsvoll und begehrt erst in der letzten Auseinandersetzung mit José wieder auf, wo sie dann nicht durch das Messer sterben muss, sondern mit einem Holzprügel erschlagen wird, den sie sich davor selbst zu ihrer Verteidigung genommen hat. In Gesang und Spiel ist diese junge Russin ein Gesamtkunstwerk, und es verwundert nicht, dass sie nun schon überall (außer in der Wiener Staatsoper) die Carmen vom Dienst ist.
Als José sah man Piotr Beczała, den man ja in Wien sowohl 2018 in der alten Zeffirelli-Inszenierung wie später 2022 in der neuen Calixto Bieito-Inszenierung gesehen hat. Beczala gehört zu jener Generation der Tenöre, die nun 50 plus ist, und er ist der einzige unter ihnen, der noch an die Met geht (Kaufmann und Florez haben sich seit Jahren dort nicht mehr sehen lassen, Grigolo ist aus „moralischen“ Gründen unerwünscht). Das bietet dem Polen große Möglichkeiten in New York, und den Don José hat er nun offenbar, wenn man ihn im Pausen-Interview nicht missverstanden hat, seit Wien erstmals wieder gesungen. Er ist stimmlich auf der Höhe, schafft besagte Höhen und ist auch nicht mehr ganz so steif wie früher, wenn schauspielerisches Talent eben doch nicht zu erzwingen ist. Aber was eine Regisseurin erreichen kann, wurde ihm dann in der dramatischen Schlußszene abverlangt (an echte José-Talente wie Carreras, Domingo, Lima, die sich und ihre Partnerinnen am Ende zerfleischt haben, darf man natürlich icht denken.)
Eine Enttäuschung war Kyle Ketelsen, stimmlich und erscheinungsmäßig zu schwach für einen glanzvollen Escamillo. Sehr ergreifend und dabei lebendiger, präsenter als viele Kolleginnen, gab Angel Blue (wenn auch schon ein bisschen zu dramatisch, schließlich ist sie bereits bei der Tosca angelangt) die Micaela. Geradezu glänzend die beiden Gefährtinnen von Carmen, Sydney Mancasola als Frasquita, Briana Hunter als Mercedes, persönlichkeitsstarke Stimm- und Temperamentsbomben beide. Nicht ganz einheitlich die Herren-Nebenrollen.
Dirigent Daniele Rustioni, der in der Pause ein geradezu bezauberndes, hymnisches Bekenntnis zu Bizet ablegte, hatte sowohl die präzise, scharfe Artikulation der Musik fest im Griff wie später sowohl die Lyrik (Vorspiel zum dritten Akt) wie die düstere Dramatik. Da konnten sich alle Sänger auf einen Orchesterpart mit hohem Niveau stützen.
Das New Yorker Publikum hatte sich von den schlechten unter den Kritiken nicht beirrten lassen und applaudierte dem nicht alltäglichen Abend so heftig, wie er es verdiente.
Renate Wagner, 28. Januar 2024
CARMEN
Georges Bizet
Die Met im Kino
Village Cinema Wien Mitte
27. Jänner 2024