Aufführen heißt: Interpretieren – und Interpretieren heißt: Bearbeiten.
Man kommt, wenn man das Theater einmal genau reflektiert, nicht um die Tatsache herum, dass jede Aufführung – egal, wie „werktreu“ oder „werkgerecht“ sie auch sein möchte – schon eine Deutung ist, die wiederum von jedem einzelnen Zuschauer jeweils anders gedeutet werden kann. Im sog. Barock war es nicht anders, ja: Hier stellt sich die Aufführungsgeschichte vieler Opern als eine einzige Bearbeitungsgeschichte dar. Händels 1733 uraufgeführter Orlando macht da kein Ausnahme, auch wenn der Komponist und Theaterleiter dem Stück kein revival zukommen ließ. Orlando ist daher nur in einer einzigen Händel-Fassung überliefert, wurde also nicht, wie’s gängig war, für weitere performances hier gekürzt, dort erweitert, hier arienmässig transponiert, dort teilweise in seiner ersten Fassung belassen. Dass auch die zweiten oder dritten Fassungen, die Händel von einem seiner Bühnenwerke oder Oratorien erstellte, Originalfassungen sind: auf diese bekannte Eigenheit der barocken Opernpraxis macht Lawrence Zazzo in einem Beitrag aufmerksam, den man im neuen Händel-Jahrbuch lesen kann.
Der 69. Jahrgang der Reihe präsentiert im Kern die Beiträge eines Hallenser Symposions, das sich 2022 in acht thematisch orientierten, deutsch- wie englischsprachigen Aufsätzen (neben sechs weiteren Texten) um eben jenen Orlando drehte, der in Händels unvergleichlichem Gesamtwerk eine seinerseits unvergleichliche oder doch kaum vergleichbare Position einnimmt – auch wenn die Gattung der Zauberoper damals populär war und Händel dem Orlando sogleich zwei andere Opern nach Ariosts gewaltigem Versepos Orlando furioso folgen ließ. „Aus heutiger Sicht ist Orlando eines der grandiosesten Bühnenwerke Händels“, schrieb Hansjörg Drauschke. „Es scheint in seiner tiefen, über weite Strecken ganz auf das Tragische gerichteten Sprache den Bogen weit zurück zu spannen bis zu den Anfängen der Oper, gemahnt in einigen Szenen an Monteverdis L’Orfeo – und auf der anderen Seite greift Händel musikalisch weit über das Zeitübliche hinaus.“ Man findet diese Würdigung zwar nicht im neuen Jahrbuch, sondern im Programmheft der Münchner Aufführung von 2006, doch dürften ihr die Beiträger nicht widersprechen.
Die Barock-Opern-Geschichte im Besonderen und Allgemeinen als Bearbeitungsgeschichte(n): Dies könnte der geheime Titel des Bandes sein, dessen Aufsätze sich von der Entdeckung der Händel-Oper im frühen 20. Jahrhundert zu den Eigenheiten des 18. Jahrhunderts hinbewegen. Wolfgang Hirschmann erläutert zunächst Arnold Scherings Zugang zu Händel, bevor Andreas Waczkat die ersten Göttinger Händelfestspiele mit ihrem Protagonisten Oskar Hagen beleuchtet. Man merkt: Opernforschung (die Theorie) und Aufführungsstil (die Praxis, also „the style of presentation“, wie Donald Burrows und Milton Keynes schreiben), sind, man kann das nicht oft genug wiederholen, immer zeitgebunden; wo die Oratorien als „germanische“ Oper besungen werden und radikale Eingriffe in den Notentext und die Dramaturgie der Stücke, ganz abgesehen von den musikalisch und textlich abstrusen Verdeutschungen, völlig gängig und akzeptiert waren, um dem verehrten Komponisten zu dienen, haben wir es mit einem „Regietheater“ avant la lettre zu tun. Man muss sich darüber nicht lustig machen, um zu begreifen, dass die Herren, die vor 100 Jahren den Händel aus heutiger Sicht hingerichtet haben, aus ihrer zeitlichen Perspektive heraus das Richtige taten – abgesehen davon, dass man ja irgendwann überhaupt erst einmal mit der Inszenesetzung der Bühnenwerke anfangen musste.
Man kann angesichts der barbarischen Kürzungen und Änderungen, die seinerzeit üblich waren, allerdings ins Grübeln geraten, wenn man Zacco Ernst nimmt. Denn Händel selbst nahm sich ja die Freiheit, vehement in seine eigenen, durchaus nicht sakrosankten Partituren einzugreifen. Hier, so der Musikwissenschaftler, könnte eine heutige Praxis ansetzen, weil man beim Komponisten selbst ein Vorbild findet, womit Hagens „extreme revising“ der Händelschen Notentexte durchaus nach Händels Modell entschuldigt werden und heutige Opernaufführungen nicht mehr 4,5, sondern mit 1000 Takten weniger „nur“ noch drei Stunden dauern könnten, ohne dass der Besucher den Eindruck hätte, dass irgend etwas fehlte. Schliesslich speisen und tratschen wir ja auch nicht mehr während der Aufführung einer Barock-Oper. „Theorie und Praxis“: dies könnte ein weiterer Titel des Bandes sein, in dessen Mitte die dramaturgische wie musikalische Inszenierung des Stücks steht, das, so Kordula Knaus, von Händel als Regisseur des vorgegebenen Orlando-Stoffs und -Librettos zum Leben erweckt wurde. Heutige Regisseure haben wiederum die Aufgabe, ja die Pflicht, die Lücken, die Händels Text und Musik lassen, interpretatorisch auszufüllen. „The gap in the linking of scenes“, schreibt Carlo Lanfossi in seiner Erläuterung mehrerer szenischer Interpretationen eines Details der Wahnsinnsszene, mit der der 2. Akt endet, „was thus a deliberate choice to amplify the sense of confusion called for by the dramaturgical moment.“ Auf deutsch: Die Lücke in der Verknüpfung der Szenen sei eine bewusste Entscheidung gewesen, um das Gefühl der Verwirrung zu verstärken, das das dramaturgische Moment verlangt. Und wo „confusion“ herrscht, darf die Regie gern zu sehr verschiedenen Lösungen kommen, die nicht „werktreu“, aber werkgerecht sind. Denn schon die Librettisten, die sich vor Händel und dem unbekannten Bearbeiter des Textbuchs Carlo Sigismondo Capeces (Rom 1711, vertont von Domenico Scarlatti) mit Orlando befassten, haben andere Strategien gewählt, um die von Ariost erfundene Geschichte auf die Opernbühne zu bringen. Indem Händel nur wenige Sänger und Sängerinnen zur Verfügung standen, war er als, wie gesagt, regieführender Komponist geradezu gezwungen, ein anderes Personal und mit dem weisen Zoroastre eine außergewöhnliche Basspartie zu schaffen; hätte er Orlando noch einmal herausgebracht, hätte er sich möglicherweise überlegen müssen, wie er die Basspartie ersetzen könnte. So hatte der „cast“, an der Spitze: Senesino, der den Orlando sang und auch besonders gut spielte, so hatte die Besetzung einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf die jeweilige Gestalt der Werke, ihrer Figuren und der sehr spezifischen und aussagekräftigen Änderungen, die Händel noch während der Komposition an seiner Oper vornahm. Schon die Niederschrift des Librettos mit seinem besonderen Personal dürfte nicht ohne seinen Willen erfolgt sein; Thomas Seedorf und v.a. Matthew Gardner haben dazu einiges Profunde zu sagen. Es waren nicht zuletzt die Fähigkeiten der Sängerinnen und Sänger, die den Erfolg, aber auch die Form der Oper ausmachten und hier und da besondere, von Berthold Over herbeigezogene Ariensammlungen ermöglichten, mit denen ganz nebenbei die Gesangsstars, auch die „rival queens“ geehrt werden konnten: als würde heute die Netrebko neben der Garanca oder der Grigorian platziert werden. Man denkt unwillkürlich an die Callas und die Tebaldi, die in den 50er Jahren zu Rivalinnen erklärt wurden.
Der wichtigste Beitrag über die Musik der Oper scheint mir von David Kimbell zu stammen, der in einer genauen Analyse die Bedeutung des Zauberwesens im dramma per musica, die Struktur der die herkömmliche Oper erweiternden Wahnsinnsszene und die Beiträge untersucht, die Orlando, Zoroastre und die durchaus nicht nebensächliche Schäferin Dorinda im Ganzen des Werks leisten. Colin Timms weist in seinem librettoorientierten wichtigen Beitrag übrigens auf ein weiteres Büchelchen hin, das der anonyme Verfertiger des Händel-Textbuchs gekannt haben muss, um seine Szene vollständig zu machen: auf Grazio Bracciolis Orlando furioso (Venedig 1713), der von Antonio Ristori, dann von Vivaldi komponiert wurde. Auch eine Hannoveraner Orlando-Oper von Ortensio Mauro und Agostino Steffani scheint im Hintergrund des Händel-Werks gestanden zu haben, das auch als Teil der Londoner Opera-seria-Reform verstanden werden muss.
Seltsamerweise haben die Herausgeber des Bandes inmitten der einander ergänzenden Orlando-Aufsätze nicht allein einen weiteren Beitrag zu zwei fast verschollenen frühen Opern des Meisters platziert. Plötzlich lesen wir einen Text (von Graydon Beeks) über vier der sechs Triosonaten op. 2, die John Walsh, sicher ohne Zustimmung Händels, auf der Grundlage kursierender Handschriften um 1730 veröffentlichte. Doch auch dieser scheinbar extern stehende Aufsatz fügt sich dem Großthema der „Bearbeitung“: wenn genau erläutert wird, für welche originalen, d.h. optimal zu spielenden Instrumente die Kammermusikwerke einst geschrieben wurden. Spannend wird es auch, wenn sich John H. Roberts um die Fragmente der frühen Hamburger Opern Der beglückte Florindo und Die verwandelte Daphne kümmert. Hier wie dort konnten in den letzten Jahren immerhin Reste der Musik wiederentdeckt werden, so dass wir heute eine kleine Florindo-Suite und eine parodierte, d.h.: wiederum bearbeitete Arie aus Händels Daphne hören können. Cathal Twomey erläutert schließlich das wesentlich spätere „Self-Borrwing“ einer Arie, die zunächst für die unaufgeführte Schauspielmusik der Alceste, dann für das Oratorium bzw, die Semi-Opera The Choice of Hercules verwendet wurde: als bewusste, ironisch gemeinte Parodie, denn die Situationen, in denen sie gesungen wird, sind diametral unterschiedlich – und doch „funktioniert“, mit je eigenen Intentionen, die musikalische Deutung hier wie dort.
Dass eine musikalische Lösung zugleich „falsch“ und doch „richtig“ zu sein vermag: dies belegt am Ende David Vickers’ kommentierte Übersicht von Einspielungen des Messiah aus den Jahren 1980-2020. Leider wissen wir immer noch nicht genau, was eine Violetta marina war, die Händel für den Orlando vorsah. Vermutlich handelte es sich um eine Art Bratsche, aber in Zusammenhang mit den diskutierten Messiah-Aufnahmen kann zweifelsfrei festgestellt werden, dass manch Hinzuziehung eines Instruments, das nicht in den verschiedenen authentischen (!) Partituren des Oratoriums begegnet, schauderhaft sein kann – obwohl es „historisch informiert“ gespielt wird. Andererseits kann ein anderes Instrumentarium aber auch für schöne Wirkungen sorgen, die Händels Geist ehrlich und auf eigene Weise ins Heute bringen.
Es ist wie mit dem sog. „Regietheater“. Interpretation muss sein: in wissenschaftlichen wie in künstlerischen Deutungen. Ob’s einem gefällt, bleibt schließlich und glücklicherweise jedem selbst überlassen. Nur in Sachen Wissenschaft sollte man skrupulös sein. In dieser Hinsicht bietet das neue Händel-Jahrbuch mit seinen anspruchsvollen Beiträgen den state of the art, am Ende noch eine umfangreiche Bibliographie der neuesten Händel-Literatur und eine Liste der jüngst erschienen Tonträger und DVDs in Sachen Händel.
In diesem Sinn dürfte schon jener Leser zufrieden sein, der sich weniger für die harten wie spannenden, weil neuen theoretischen Fakten als für praktische Hinweise auf die zeitlich letzten Interpretationen interessiert.
Frank Piontek, 31. Januar 2024
Händel-Jahrbuch 2023
Hrg. von der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft e. V.
Bärenreiter Verlag, 2023.
371 Seiten, 54 Euro.