Buchkritik: „Anton Bruckner. Eine Biografie“, Klaus Petermayr / Alfred Weidinger (Hrsg.)

Mensch, Genie und Mostkopf

Er hat, man weiß es, Richard Wagner unermesslich verehrt, er war sogar, als er in Wien lebte, es sich leisten und kein Kleriker es ihm verbieten konnte, auch öfter die Hofoper besucht – aber mit dem Musiktheater konnte er, glaubt man, recht eigentlich wenig anfangen. Der Satz ist überliefert: „Warum wird die Frau verbrannt“ – spricht so jemand, der Die Walküre wirklich kennt? Als er einmal Charles Gounod in Paris traf und der ihm Ausschnitte aus seiner neuen Oper Roméo et Juliette vorspielte, ging es ihn nicht an. Es langweilte ihn, wie der Kommentar lakonisch lautet. Und doch müssen wir uns den größten österreichischen Symphoniker der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auch als Opernfreund vorstellen. Es war, so betrachtet, ein glücklicher Zufall, dass er nicht, wie beabsichtigt, eine bestimmte Vorstellung von Offenbachs Contes d’Hoffmann im benachbarten Ringtheater besuchte. Der Abend ging als „Ringtheaterbrand“ in die Annalen der Wiener Operngeschichte ein; wäre Bruckner dabei gewesen, gäbe es heute keine 7., keine 8. und keine 9. Symphonie, auch kein Tedeum.

Mag sein, dass die Walküre-Geschichte nur zu jenen Anekdoten gehört, die sich schon zu Lebzeiten Bruckners um ihn rankten und sein Bild verstellten oder zumindest verunklarten. Für das Bruckner-Jahr, in dem man seinen 200. Geburtstag feiert (gestorben ist er ja, ebenso wie Wagner, nie), legten etliche Herausgeber und Autoren neue Bruckner-Bücher vor. Unter dem schlichten Titel Anton Bruckner. Eine Biographie haben nun mehrere österreichische Wissenschaftlerinnen und Forscher eine Sammlung von Aufsätzen vorgelegt, die zusammen tatsächlich ein Ganzes ergeben – obwohl oder vielleicht gerade: weil die großen, an den Lebensstationen orientierten Kapitel immer wieder von Exkursen (es sind nicht weniger als 25) unterbrochen werden. Man erfährt also nicht nur alles Wissenswerte über Bruckners Leben und Einiges über seine Werke, sondern auch viel über seine Persönlichkeit. Wo sich die Wissenschaftler spekulierende Einblicke in das versagen, was früher biographistischer Usus war, erläutern sie umso genauer, also quellengesättigter und durchaus systematisch, was es mit Bruckners Frömmigkeit, seiner Sprache, seinen Essgewohnheiten, seiner Kleidung, seinen Frauengeschichten und seinen engen familiären Beziehungen, in musikalischer Hinsicht mit seinen Instrumenten, besonders der Orgel bzw. den Orgeln, auch der Wiener Hofmusikkapelle und Bruckner und der Volksmusik auf sich hat. Sympathischerweise werden da nicht allein Bruckner, sondern auch einige der Damen rehabilitiert (Stichwort: Berliner Stubenmädchen), die zum Gemeingut einer eher aufs Sensationelle schielenden Bruckner-Biographik waren.

Der Band bündelt also die Forschungsergebnisse einiger Jahrzehnte, um sich nicht allein dem „Helden“, sondern auch sehr genau seinem unmittelbaren Umfeld zu widmen, in das der Mensch und der Komponist hineingeboren wurde. Statt sich in schwülen Spekulationen betreffs seines Innenlebens zu ergeben (wie es beispielsweise Oskar Loerke in seinem Bruckner-Essay einst tat), werden die biographischen Daten noch jedes Vorgesetzten, Freundes, Berufskollegen, Priesters und Musikers, Organisten und Gesangsvereinsleiters konzis mitgeteilt. So entsteht, im Widerspiel von Personen-, Sozial-, Orts-, Lokalkultur-, Kirchen-, Musik- und Institutionsgeschichte tatsächlich ein realistisches Bild des Menschen und Musikers Bruckner, der auch, bei aller Zurückhaltung des Menschen und Freundes Bruckner, als gut vernetztes und soziales Wesen Gerechtigkeit erfährt. Wer Interesse hat an den Details all dessen, was über das Musikleben in den durchaus nicht provinziellen Orten seiner Kindheit und Jugend heute noch durch die Kärrnerarbeit des Archivwesens herausgefunden werden kann, wird Bruckner plötzlich nicht mehr als Herren vom anderen Stern, sondern als freilich herausragenden Exponenten seiner Zeit begreifen. Den Legenden der Vorzeit setzen die Autoren nüchterne Einordnungen entgegen, die doch immer noch Raum lassen für die menschliche und musikalische Exzentrizität Anton Bruckners. So erscheint er bisweilen als durchaus normaler Mann, der von der Frömmigkeit seiner nicht allein oberösterreichischen Heimat und den musikalischen Überlieferungen der Klassik geprägt wurde. Seine Briefe, die – im Gegensatz zu denen Richard Wagners oder Johannes Brahms’ – in der zweiten Hälfte seines Lebens reine, in einem altertümlichen Kanzleistil verfasste Schreiben waren, wirken im Kontext der Amtssprachen seiner Zeit etwas verschroben, doch kaum auffällig. Seine Sprache war, zieht man die Unsicherheiten ab, die durch die oft posthumen Erzählungen über ihn verbreitet worden sind, sein sprachlicher Ausdruck war der seiner unmittelbaren Herkunft – und genauso gängig im Wien der Kaiserzeit wie die eines Mannes aus Hradec Kralove/Königgrätz oder einer Frau aus Spalato/Split. Zieht man also alles vom Bruckner-Bild ab, was nur dann kurios erscheint, wenn es sich der Unkenntnis bezüglich der Quellen und der Kontexte verdankt, bleibt immer noch ein Mensch und Musiker übrig, der spannend genug ist, auf 300 Seiten mitsamt seiner Umwelt porträtiert zu werden. Nein, Bruckner war kein komischer Kauz, sondern ein hochgeachteter Lehrer und integrer, auch durchaus nicht primitiver Mensch, der von intelligenten Leuten, die es wissen mussten, nicht persifliert, sondern genau charakterisiert und verehrt wurde. Dass die zeitgenössischen Bruckner-Symphoniebearbeiter Schalk und Löwe, die den Komponisten zutiefst missverstanden, während sie ihn zu schätzen meinten, ihr kritisches Fett abbekommen, versteht sich fast von selbst, auch wenn die Frage, ob nicht manch spätere Fassung einer Symphonie die gelungenere sein könnte (wie immer man dieses „Gelungenere“ zu hören vermag…), nur selten angeschnitten wird. Der Rest ist sachlich und nur selten, in einigen Aussagen Johannes Leopold Mayers, ein Stückchen Heiligenvita. Er bleibt auf seine Weise ein „Mostkopf“ – und wird doch als Mensch und Musiker in jedem Detail ernstgenommen.

In der „Biographie“ kommen also das Werk und das Leben sich so nah, dass so gut wie jede überlieferte Komposition in ihrem Sitz im Leben dargestellt werden kann: jedes Lied und jeder Chor, jedes Klavierstück und jedes der seltenen Kammermusikwerke. Auch jede Symphonie und jede Messe, denn zuletzt unternimmt es Johannes Leopold Mayer, die Hauptwerke im Blick auf Bruckners Eigenstes zu interpretieren. Das Leben im Werk, so lautete vor einem Jahrhundert der Untertitel eines der bedeutendsten, von Paul Bekker publizierten Wagner-Bücher. Bruckners Messen und Symphonien im Leben des Komponisten: diesem Thema hat sich am Ende der Brucknerkenner J.L. Mayer verschrieben, der denn doch den Raum des Positivismus verlässt und sich an Spekulationen wagt. „Es ist ein dorniger Weg ins Ungewisse mit vielen Umwegen und Zwischenstationen. Bruckner will von der Möglichkeit einer Unendlichkeit nichts ahnen. Er komponierte für das Scherzo der Neunten drei verschiedene Trios, zwei mit virtuosem Bratschensolo und entsprechend reduziertem Orchesterklang, ein letztes Aufblühen melodischer Heiterkeit und Gelassenheit, wie sie seine Trios bisher durchzogen.“ Muss man, kann man das verstehen, wenn man nicht so metaphysisch begabt ist wie der Autor, der sein eigenes (positives) Verhältnis zum Glauben wie selbstverständlich in die Analyse einbringt? Andererseits: Ist der Symphoniker Bruckner, der ja nicht grundlos in seinen Symphonien aus seinen Messen zitiert hat (eine Liste listet die Zitate mustergültig auf), ohne die Religion zu haben, die sich letztgültigen wissenschaftlichen Kriterien entzieht?

Ansonsten aber zeichnet sich der Band meist durch das aus, was in der Geschichtswissenschaft so schwer zu erreichen ist: eine Art Objektivität und eine Fülle an wertvollen Informationen, die man sich ansonsten mühselig zusammensuchen müsste. Doch ist schon die Interpretation der oft nüchternen Quellen – ebenso wie die Darstellung der absolut konsequenten Berufslaufbahn des bis vor einiger Zeit noch als willensschwach charakterisierten Mannes aus Ansfelden – für alle Leser spannend, die sich für die Zeit und nicht allein für Anekdoten und oberflächliche Lebensbilder interessieren. In rein musikalischer Hinsicht wird ein besonderes Augenmerk auf die Messen und die späten Symphonien gelegt; nur einmal wird die Nullte versehentlich mit der 1. Symphonie verwechselt, was der lange falsch tradierten Entstehungsgeschichte der beiden Werke geschuldet sein mag, denn heute weiß man, dass die 1. Symphonie vor der sog. „O.“ komponiert wurde. Eine Biographie bringt dem Leser also eine Fülle an Informationen, auch an neuesten Forschungsergebnissen, die das Bruckner-Bild, das man sich auf der Grundlage dieser Forschungen bislang machen konnte, nicht völlig verändern, aber zwischen zwei Buchdeckeln sehr gut zeichnen. Nicht zuletzt überrascht der Band durch eine wertvolle Bildstrecke: die erstklassigen Reproduktionen aller überlieferten Bruckner-Fotos in chronologischer Reihenfolge, bis hin zum Leichnam. Letzteres und Letzterer dürfte für die meisten Leser entbehrlich sein, gehört aber vielleicht zu jener „österreichischen Frömmigkeit“, die nicht allein Bruckner seinerzeit ausgiebig pflegte. Der Band kam in Salzburg, nicht im Saarland heraus.

Auch der Anhang ist mustergültig. Der neue Band könnte auch als Reisebuch dienen, da schlussendlich alle Orte, die Bruckner bewohnte, besuchte und streifte, katalogisiert und in biographischer Hinsicht präzis beschrieben werden. Eine Chronologie bietet alle „wichtigen“ Ereignisse in Bruckners Leben, ein Werkverzeichnis listet alle authentischen Werke auf, eine ausgiebige Literaturliste lässt für den, der es ganz genau wissen will, keine Wünsche offen, das Inhaltsverzeichnis erschließt sämtliche Personen-, Orts- und schließlich Werknennungen. Wer also zukünftig in Kürze erfahren will, was es mit Bruckners einziger Opernbearbeitung – dem Schlussgesang aus Anton Emil Titls Der Zauberschleier – auf sich hat, wird in dieser Biographie fündig werden, in der selbst die ganz kleinen Werke unmittelbar zu Gott sind. Wer zumindest Einiges über sein Verhältnis zu Wagner erfahren will, dessen Tannhäuser zu einem der auslösenden Momente für Bruckners Komponistendasein wurde, wird darüber kurz, aber genau genug aufgeklärt; dass Wagners Musik von Bruckner zitiert oder direkt verarbeitet wurde, wird mit guten Gründen ins Reich der Legende verwiesen. Als Opernfreund bleibt ihm die Ehre, den Schlusschor aus den Meistersingern ur-, nicht erstaufgeführt zu haben: mit seinem Linzer Gesangsverein Frohsinn. Gewiss, man hat das, als Opern-Aficionado oder Brucknerianer, schon vorher gewusst, aber Bruckners Opernbeziehungen in den genau dargestellten Zusammenhang seiner sonstigen beruflichen Tätigkeiten gestellt zu sehen, ist schon sehr schön.

Grund genug also, dem Meister der Symphonie und des geistlichen Werks auch beim Opernfreund seinen Platz einzuräumen.

Frank Piontek, 24. Januar 2024


Klaus Petermayr/Alfred Weidinger (Hrsg.):
Anton Bruckner. Eine Biografie

Verlag Anton Pustet
Salzburg 2023
352 Seiten, 32 Fotos auf Tafeln

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