Seit den angloamerikanischen Luftangriffen des 13. Februar des Jahres 1945 auf die bis zu dieser Zeit unzerstörte Barockstadt Dresden mit einer bis Dato nie exakt bestimmten Zahl von Todesopfern ist inzwischen mit den 79 Jahren ein Menschenalter vergangen. Jene Menschen, die das Grauen des Feuersturms bewusst erlebten, versterben zunehmend und den derzeit weltweit Entscheidenden fehlt diese Erfahrung, so dass sie unbeschwert von „Kriegstauglichkeit“ palavern können.
Bei den in meinem familiären Umfeld betroffenen Menschen sind die psychischen Auswirkungen des Irrens durch den Feuersturm von den vielfältigen Eindrücken langer Lebenszeit bis zu einem gewissen Umfang überdeckt. Trotzdem bleibt es uns ein Bedürfnis, an jedem 13. Februar das Konzert der Sächsischen Staatskapelle zum „Gedenken an die Zerstörung Dresdens“ zu besuchen und die Augen Betroffener wurden auch nach der langen Zeit noch immer feucht.
In diesem Jahr hat letztmalig in seiner Amtszeit als Chefdirigent des Orchesters Christian Thielemann das Konzert mit dem „Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms geleitet.
Als der 33-Jährige Johannes Brahms im Juli 1856 seinen Mentor und wichtigsten Freund Robert Schumann an den Tod verlor, begann er, nachdem er bis zu dieser Zeit ausschließlich mit Kompositionen „kleinerer Formen“ an die Öffentlichkeit getreten war, aus dem Stand heraus an einem Chorwerk zu arbeiten. Im Nachlass Schumanns war Brahms auf ein Projekt seines Freundes zu einem „Deutschen Requiem“ gestoßen, was er als Anregung aufnahm und umgehend mit der Arbeit begann. Der Zusammenhang der Entstehung der späteren ersten zwei Sätzen des Brahms´schen „Deutschen Requiems“ mit Schumanns Versterben wird in der Musikliteratur zwar oft bezweifelt, aber die vom bekennenden Agnostiker Brahms verwendeten Bibeltexte stützen den Zusammenhang. Brahms ist gewiss kein Atheist gewesen, aber den klugen Worten der Texte des Jahrtausende alten Kompendiums der „Heiligen Schrift“ konnte sich der religiöse Freigeist nicht entziehen. Auch die liturgische Form der katholischen Totenmesse hatte den Glaubens-Skeptiker offenbar angesprochen. Die Texte aus der Hamburger evangelischen Luther-Bibel entnahm Brahms vermutlich recht zügig und formulierte daraus ein Art Prosagedicht. Brahms wollte auf keinen Fall eine herkömmliche Totenmesse. Mit dem Grundgedanken, dass am Ende jedes Lebens der Tod steht, aber nicht die Verstorbenen die Bitte um Erlösung benötigen, sondern die Zurückgelassenen, die Weiterlebenden des Trostes bedürfen, reklamierte er seine Weltanschauung.
Nach dem euphorischen Beginn der Arbeit unterbrach Brahms die Arbeit an der Komposition und suchte über zehn Jahre mit unterschiedlicher Intensität nach der ihm entsprechenden Form der Gestaltung der Chor- und Orchestermusik. Die Uraufführungen seiner Arbeitsergebnisse in drei Phasen sind der Nachweis, dass sich Brahms mit dieser Unvereinbarkeit des ewigen Kreislaufs von Werden und Vergehen, dem Kontrast von Leben und Tod richtiggehend abgearbeitet hat.
Die Arbeit an den ersten vier Sätzen schloss er 1865 ab und ließ 1867 eine Aufführung in Wien zu. Die Sätze sechs und sieben entstanden im Zeitraum bis 1866. Erst als nach deren Präsentation der sechs Sätze 1868 in Bremen bei Aufführungen Arien von Georg Friedrich Händel beziehungsweise aus dem „Freischütz“ dazwischen gesungen worden waren, beendete Brahms diese Unsitte und schob für die Leipziger Gewandhaus-Uraufführung im Februar des Jahres 1869 das auf starke Kontraste verzichtende Sopransolo ein, das er als fünften Satz in das Werk eingruppierte.
Trotz der komplexen Entstehungsgeschichte erlebten wir am 13. Februar 2024 in der Semperoper eine in sich geschlossene Aufführung des „Deutschen Requiems“ voller spannungsgeladener Intensität.
Bereits die ersten Töne aus der scheinbar absoluten Stille im Raum veränderten die Empfindungen, als die Celli mit einer berückend schönen Melodie verhalten begannen und diese den Bratschen übergaben. Der vom Staatsopernchor im zartesten Pianissimo übernommene zentrale Gedanke „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“, ließ uns dann in die Musik eintauchen.
Ebenso Verhalten begann auch der Trauermarsch des zweiten Satzes bis der Chor seine düstere deprimierende Verkündung „Denn alles Fleisch ist wie Gras“, nämlich dass alles irdische Leben vergänglich sei. Wie zur Bekräftigung schrie der Chor bei der zweiten Wiederholung diese Aussage regelrecht heraus.
Im dritten Satz vereinten sich der Bariton Markus Eiche und der Chor zur Bitte „Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss, und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muss“ und zur Erkenntnis, dass unser Leben und Tod dicht beieinander liegen.
Mit seiner leichten und angenehm zügigen Interpretation vermied Christian Thielemann mit dem der Chorsatz „Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth“ eine schwülstige Vision der Schönheit eines jenseitigen Lebens. In der Folge konnte er mit traumhaften Piani des Orchesters der Sopranistin Julia Kleiter für ihr mit wunderbarem Timbre gesungenes „Ihr habt nun Traurigkeit“ den Boden bereitet.
Der dramatische Höhepunkt wurde erreicht, als der Chor „Denn wir haben hier keine bleibende Statt“ vom Solisten mit „Siehe ich sage euch ein Geheimnis…“aufgenommen, weiter zum „Der Tod ist verschlungen in den Sieg“ getragen worden war. Mit den gewaltigen Chorfugen „Herr, du bist würdig zu nehmen Preis und Ehre und Kraft“ sowie unmittelbar im jüngsten Gericht „zu der Zeit der letzten Posaune“ füllten Chor und Orchester das Haus mit einem hochfahrenden Klanginferno.
Der Finalsatz nahm noch einmal die Stimmung des Kopfsatzes auf und ließ ihn melodisch reich aufblühen bis zur tröstlichen Gewissheit „Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben mit der Abrundung des Bogens. Folglich blieb der Höhepunkt der Interpretation auf dem Wort Kraft erreicht, wenn der Chorsatz „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt“ endet.
Bei aller Klangschwelgerei blieb das Konzert frei von Sentimentalität. Mit der leichten und angenehm zügigen Interpretation Christian Thielemanns war eine wichtige Voraussetzung für eine glaubhafte Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens gesichert worden.
Der von André Kellinghaus einstudierte fantastische Staatsopernchor blieb mit der bezwingenden Schönheit seiner Leistung der Hauptdarsteller des Konzerts. Mit seinem kraftvoll frischen Timbre sowie einer dramatisch betonten Aussprache wurden den Hörern alle Facetten von Leid, Tod, Vergänglichkeit, aber auch von Tröstung, Leben und Ewigkeit regelrecht ins Herz gesungen.
Die Musiker der Staatskapelle erwiesen sich mit ihrem transparenten wandlungsfähig-zurückhaltendem Ton als verlässliche Stütze für den Chor und die Solisten. Ihr Spiel lebte aber auch von den musikalischen Gegensätzen, wenn im jüngsten Gericht „zu der Zeit der letzten Posaune“ das Haus mit einem hochfahrenden Klanginferno zu füllen war.
Der Solopart des Baritons war mit Markus Eiche glänzend besetzt. Mit wunderbarem Legato verkündet er seine Verse und rundete das exakt ausgesteuerte vokale Bild ab.
Dieser Abend beinhaltete alles, was diese Musik ausmacht: Erhabenheit, Andächtigkeit, Beseeltheit, Trost und inneren Frieden, so dass eine Überleitung zur Gedenkminute den Hörern auch ohne den Anlass des Konzertes zum Bedürfnis wurde.
Thomas Thielemann 15. Februar 2024
„Zum Gedenken an die Zerstörung Dresdens am 13. Februar 1945“
Johannes Brahms:
Ein deutsches Requiem op. 45
Semperoper Dresden
13. Februar 2024
Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Sächsische Staatskapelle Dresden
Dirigent: Christian Thielemann