Arrigo Boito (eigentlich Enrico, 1842-1918) ist nicht-italienischen Opernliebhabern in erster Linie als Librettist für Verdis “Otello” und “Falstaff” (und die Neubearbeitung von “Simon Boccanegra”) bzw. unter dem Pseudonym Tobia Gorrio für Ponchiellis “Gioconda” und seine Oper “Mefistofele” bekannt. Der Sohn einer polnischen Mutter, geboren in Padua, aber zeit seines Erwachsenenlebens in Mailand beheimatet, war einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten “Scapigliatura” (am besten mit ‘Leben als Bohémien’ übersetzt), einer zunächst norditalienischen Bewegung der Sechzigerjahre des 19. Jahrhunderts, die positivistische Werte ablehnte und eine Zeitlang großen künstlerischen Einfluss hatte. Zu ihr gehörten unter den Musikern Alfredo Catalani und Amilcare Ponchielli, auch der junge Puccini. Boito war eine Doppelbegabung als Dichter und Komponist. Der erwähnte “Mefistofele” hat sich die Bühnen zwar nicht auf dem Niveau eines Repertoirewerks erobert, taucht aber doch relativ regelmäßig in den Opernhäusern auf.
Ganz anders liegt der Fall der dem römischen Kaiser gewidmeten Oper. Boito hat ganze 60(!) Jahre daran gearbeitet und hinterließ das Werk unvollendet. Zunächst hatte er eine fünfaktige Tragödie geschrieben, die nicht für die Bühne, sondern zum Lesen gedacht war (erschienen 1901). Der Autor hatte eine solche Menge an historischen Details und Wissen über Neros Epoche angehäuft, dass es ihm immer schwerer fiel, seinem Text den entsprechenden musikalischen Gehalt zu verleihen. Schließlich entschloss er sich dazu, den fünften Akt wegzulassen und konzentrierte sich auf die übrigen vier Akte. Immer wieder änderte er, strich oder fügte hinzu, und als er 1918 starb, war der vierte Akt noch nicht zur Gänze orchestriert. Auf dem Totenbett ließ er sich von Arturo Toscanini versprechen, dass dieser das Werk auf die Bühne bringen würde. Toscanini beauftragte Antonio Smareglia (1854-1929) und Vincenzo Tommasini (1878-1950) mit der noch ausstehenden Orchestrierung unter Verwendung des von Boito hinterlassenen Materials und leitete im Mai 1924 die Uraufführung mit einer Besetzung, die ihresgleichen suchte: In der Titelrolle Aureliano Pertile, weiters Namen wie Carlo Galeffi, Rosa Raisa und Ezio Pinza. Damals ein Riesenerfolg, wurde das Werk in mehreren großen italienischen Häusern nachgespielt und von Gino Marinuzzi auch in Südamerika bekannt gemacht. Abgesehen von Bregenz 2021 sind derzeit nur zwei Produktion auf deutschsprachigem Gebiet bekannt, und zwar 1928 in Stuttgart, wo Fritz Windgassen, der Vater des berühmten Wolfgang, die Titelrolle sang! Und bei den Antikenfestspielen in Trier 2010, inszeniert von Andrea Schwalbach.
Verschiedene Faktoren erschweren eine weitere Verbreitung von “Nerone”. Einer davon ist der für eine Inszenierung nötige Aufwand, da es immerhin vierzehn Solisten gibt, ein weiterer der fehlende fünfte Akt (wobei wiederholt davon geraunt wird, auch hier gebe es Skizzen), weil sich mit dem Auftritt des von den Erinnyen wegen der Ermordung seiner Mutter Agrippina verfolgten Nero der dramaturgische Kreis zur ersten Szene, in welcher der Kaiser die Urne mit Agrippinas Asche vergräbt, schließen würde. Der bedeutendste Faktor ist aber die Musik selbst: In sechzigjähriger Arbeit hat der Komponist so viele Einflüsse immer wieder neuer Strömungen in sich aufgenommen, dass er zu keinem eignen Stil mehr gefunden hat. Für die Sänger geht es in erster Linie um Deklamation, die ihren Reiz hat, wenn sie entsprechend interpretiert wird (was angesichts des hochgestochenen, von übergroßer Gelehrsamkeit belasteten Textes nicht einfach ist). Interessant ist die vielfach einen dicken Klang bevorzugende Orchesterbesetzung.
Die Handlung zeigt uns einen zunächst ängstlichen Nero (Tenor), der den Volkszorn fürchtet und sich mit Hilfe des Zauberers Simon Mago (Bariton) von seinen Wahnvorstellungen befreien will. Geliebt wird er von Asteria (Sopran), einem wilden Wesen, das sich von den Christen angezogen fühlt. Diese sind vertreten durch Rubria (Mezzo) und Fanuèl (Bariton) und werden von Simon Mago verfolgt. Dieser inszeniert sich mit diversen Tricks als des Fliegens mächtig und möchte Nero durch eine von Asteria auf einem Altar durchgeführte Pantomime erschrecken. Der Kaiser bemerkt, dass er das Opfer eines Tricks werden sollte, verbannt Asteria in eine Schlangengrube und befiehlt Simon Mago, bei den nächsten Spielen seine Flugkünste zu zeigen. Fanuèl wird gefangengenommen, während Rubria fliehen kann. Die Anhänger von Simon Mago organisieren den Brand von Rom, um ihn davor zu retten, seine angeblichen Fähigkeiten zeigen zu müssen, was Nero nur recht ist, kann er so doch die Stadt wieder aufbauen. Schließlich stellt sich heraus, dass Rubria eigentlich eine Vestalin ist, aber zum Christentum konvertierte, was für sie das Todesurteil bedeutet. Im letzten Bild sucht Fanuèl zusammen mit der aus der Schlangengrube geflohenen Asteria nach Rubrias Leichnam. Er vergibt der Sterbenden, dass sie ihm ihre Position als Vestalin verschwiegen hat und kann dann fliehen. Asteria singt ein an Amneris gemahnendes “Pace, pace, pace” und rettet sich schließlich aus dem einstürzenden Circus Maximus. Durch dieses Finale entsteht der irrige Eindruck, das wichtigste Thema sei für Boito in diesem Werk das Christentum gewesen, während der antiklerikale Komponist die gespaltene Persönlichkeit Neros als Muttermörder, aber auch Bewunderer der Künste mit eigenen künstlerischen Ambitionen zeigen wollte.
Die Oper auf die Bühne zu hieven ist keine einfache Sache, aber dem Regisseur Fabio Ceresa ist das mit Hilfe seines Bühnenbildners Tiziano Santi und der Kostümbildnerin Claudia Pernigotti bestens gelungen. Es wurde gar nicht erst versucht, Rom “nachzustellen”, sondern Säulenreste, wie sie der heutige Tourist sieht, genügten für ein atmosphärisches Ambiente, ebenso angedeutete Togen, aber auch an moderne Uniformen erinnernde Kostüme oder im ersten Teil des vierten Aktes das für die faschistische Weltausstellung 1942 errichtete Gebäude. Imposant in diesem Bild der Auftritt des Balletts (Choreographie: Mattia Agatiello), das unter Verwendung von Stiermasken stilisierte Gladiatorenkämpfe zeigt.
Von den Interpreten Neros und Asterias verlangt Boito stimmlich unheimlich viel. Vor allem die Gesangslinie des Kaisers führt wiederholt in höchste Höhen und braucht eine Stimme mit vollem dramatischem Aplomb. Der Georgier Mikheil Sheshaberidze brachte die zur Bewältigung der Rolle notwendigen Voraussetzungen mit, wobei er mehr die herrischen als die furchterfüllten Züge des Kaisers hervorstrich. Asteria fand in Valeria Boi eine zufriedenstellende Besetzung, auch wenn sie manchmal an ihre stimmlichen Grenzen geriet.
Als Simon Mago überzeugte Franco Vassallo mit großer Stimmkraft, aber auch nuanciertem Spiel in allen Schattierungen von Falschheit und vorgetäuschter Demut. Lyrischer ist die Rolle des Fanuèl angelegt, der Roberto Frontali die Glaubwürdigkeit eines in seinen religiösen Überzeugungen gefestigten Charakters verlieh. Für die Rubria ließ Deniz Uzun einen schön timbrierten Mezzo und viel Innigkeit hören. Tigellino, der Anführer der Prätorianer, war in Gestalt von Dongho Kim stimmlich markanter als szenisch.
Die erwähnten Sänger waren die Erstbesetzung, die ich allerdings erst am zweiten Tag gehört habe. Die Aufführung am Vortag ließ mich das Werk erst kennenlernen, weshalb eine Beurteilung der Alternativbesetzung nicht ganz leicht ist. Auch hier kam Nero aus Georgien, und ich hatte den Eindruck, dass die Spitzentöne von Konstantin Kipiani noch explosiver waren als die seines Landsmanns. Abramo Rosalen ist ein hoher Bass, entledigte sich aber mit Anstand der Baritonrolle des Simon Mago. Der Fanuèl von Leon Kim erschien mir sanftmütiger als die Interpretation von Frontali. Rachele Stanisci plagte sich stimmlich mit der Asteria, brachte aber viel Persönlichkeit in ihre Rollengestaltung ein. Mariangela Marini (Rubria) und Alessandro Abis (Tigellino) verkörperten ihre Rollen zufriedenstellend. Alle weiteren Mitwirkenden sangen an beiden Abenden: Vassily Solodkyy, Antonino Giacobbe und Natalia Gavrilan in den größeren der Nebenrollen seien stellvertretend für alle weiteren Solisten genannt.
Fabelhaftes an Stimmkraft und -schönheit leistete der von Giovanni Andreoli einstudierte Chor des Hauses, dem von Boito bedeutende Aufgaben gestellt werden. Am Pult setzte sich Francesco Cilluffo vehement für das schwierige Werk ein und führte das Orchester des Hauses zu großer Klangpracht. Im Ganzen eine hochinteressante Begegnung mit einer schwierig zu gestaltenden Oper. Cagliari hat mit seiner Saisoneröffnung bewiesen, dass dieser Titel einer Ausgrabung wert war.
Eva Pleus, 26. Februar 2024
Nerone
Arrigo Boito
Teatro Lirico Cagliari
25. Februar 2024
Inszenierung: Fabio Ceresa
Musikalische Leitung: Francesco Cilluffo
Orchestra del Teatro Lirico