Ideologische Pflichtübung
Das Plakat zu dieser Volksopern-Produktion wirkt ein wenig wie Etikettenschwindel. Denn die schöne Dame unter dem Schleier gleicht mit ihren traurigen Augen der klassischen „Maria Mutter Gottes“, wie sie in der katholischen Kunst dargestellt wird. Und wenn man dann noch „Gospel“ liest, könnte man erwarten, einen beschaulichen, klangschönen Abend zu erleben, so wie die Gospel- und Spiritual-Musik eben aus PoC-Kehlen erklingt…
Keine Spur: Es ist ein Opernoratorium von John Adams, den man durch sein Werk „Nixon in China“ kennt, daß ihn in die erste Reihe der modernen Opernkomponisten unserer Zeit katapultiert hat. Und von Peter Sellars, den man auch kennt und der als Librettist nun so befremdet, wie er es oft genug auch als Regisseur getan hat. Seine „Passionsgeschichte“ ist ein kruder Mix aus allem und jedem – oder, wie der Volksopern-Pressetext erklärt: „Es gibt nur wenige Verweise auf die Evangelien. Der Rest basiert auf diversen Quellen, von der Autobiografie Dorothy Days bis zu Gedichten der südamerikanischen Schriftstellerin Rosario Castellanos, von June Jordan bis zu anderen Texten.“
Kein Wunder, dass absolut niemand sich hier auskennen kann und sich oft wundert, was da Geschwollenes in der deutschen Übertitelung steht (denn man muss mitlesen, den englischen Text kann man schon deshalb nicht verstehen, weil das Orchester fast durchgehend auf Überlautstärke gestimmt ist).
Warum ist das unbedingt ein Werk für Lotte de Beer? Nun, wieder den Pressetext der Volksoper zu Hilfe geholt: „Mit dem Schwerpunkt auf marginalisierte (???) Perspektiven“ rückt das Werk biblische Elemente „in ein stark politisches, zeitgenössisches Licht“. Und vor allem erzählt Sellars die Geschichte aus der Perspektive der Frauen, und seit Lotte ist die Volksoper vor allem ein feministisches Haus. Ein Stück wie dieses ist für sie also ideologische Pflichtübung.
Was sieht man tatsächlich in drei Stunden, die sehr, sehr lange werden und viele Kürzungen vertragen hätten, vor allem im zweiten Teil? Die Geschichte einer „anderen Mary“ – aber welcher? Jedenfalls nicht Maria Magdalena. Nun gibt es ja in der Bibel tatsächlich zahlreiche Marien, aber da die des Stücks die Schwester von Martha und Lazarus ist, kann man sie auch als Gestalt aus dem Johannes-Evangelium identifizieren. Könnte man, aber die biblische Dame kam wohl nicht gerade aus dem Gefängnis (wie Mary zu Beginn, wo sie sich nicht genug über die Zustände dort alterieren kann) und würde auch wohl kaum in einem Heim für Arme arbeiten, das Aktivisten beherbergt. Und noch eines – diese Mary erzählt die Geschichte um Jesus nicht wirklich „aus ihrer Sicht“, sie steht einfach im Geschehen herum.
Ideologisch wichtig ist hier allerdings, dass man der Wohlstandsgesellschaft des Volksopern-Publikums eine diverse Schar von Underdogs zur Aufrüttelung des Bewusstseins vorführen kann. Wer der oftmals zitierte Jesus wohl sein mag, der hier nie identifiziert wird, auch nicht, als Lazarus zum Leben erweckt wird? Die weißhaarige alte Dame, die durch das Stück stakst, wird wohl nicht damit gemeint sein.
Diesen ersten Teil des Abends lässt die an der Volksoper debütierende Regisseurin Lisenka Heijboer Castañón in einer Art Bungalow spielen, der auf der Drehbühne steht, dessen Wände sich in verschiedene Richtungen öffnen und immer neue Perspektiven freigeben, aber es ist immer dieselbe Rumpelkammer mit Dingen, die man für Arme sammelt. Darin tummeln sich zahllose Figuren (darunter auch Transvestiten, teils in östlichem Mönchs-Look), aber außer den drei Hauptfiguren, den Geschwistern Maria, Marta und Lazarus, hat auch niemand einen Namen. Drei Countertenöre sind noch in größeren Gesangspartien eingesetzt, der Rest ist vor allem Chor, und dieser wird – wie bei Oratorien üblich – reichlich und mächtig eingesetzt.
Tatsächlich steht er zu Beginn des zweiten Akts als Phalanx von 64 Damen, Herren und Anderen, auf der Bühne, und von nun an ist alles ganz anders. Die Szene ist vordringlich leer, aber nun geht es um die aktuellen und gesellschaftlichen Bezüge (wie es im Volksopern-Text heißt). Die Aktivisten sind Polizeigewalt ausgesetzt, gehen ins Gefängnis, plötzlich tanzen riesengroße Pappmaché-Masken herum, eine Polizistenfratze als Teufel, ein Ohr (!), damit man Jesus hören kann, und auch Unerklärliches. Handlung, die im ersten Teil schwer zu begreifen, aber immerhin vorhanden war, ist hier kaum mehr auszumachen, wohl aber wird unaufhörlich kollektiv durch den Raum geschritten (Choreographie: Miguel Alejandro Castillo Le Maitre). Und die Moral von der Geschichte? Der auferstandene Jesus spricht Maria an: „Mary, Mary, Mary“. Vorhang. Hätte sich das der Vatikan zu Herzen genommen, gäbe es von Anfang an Priesterinnen, und man hätte sich Luther erspart.
Das Chaos des Librettos wird gewissermaßen von der Musik von John Adams zusammengehalten, die zweifellos ein Meisterstück an Intensität ist, dennoch immer wieder zu lang, zu laut, zu repetitiv. Dirigentin Nicole Paiement lässt Orchester (62 Frau, Mann und Andere) vordringlich ebenso losbrüllen wie den Chor. Und die drei Hauptstimmen.
Wallis Giunta ist Mary, die in einem rubinroten Body sehr gut aussieht, aber wenig Profil gewinnt. Als Martha hat Mezzo Jasmin White die überzeugendste „Röhre“ von allen zu bieten, während der Tenor von Alok Kumar schon etwas zu qualvoll in die Ohren schneidet.
Der Abend, a priori schon nicht übervoll, hatte nach der Pause noch einiges an Publikum verloren. Die Verbliebenen applaudierten brav, aber nicht wirklich enthusiastisch. Dazu ist das Gebotene, sagen wir es klar, einfach zu ungefällig. Zu verwirrend, um durchzusteigen, und von der Geschichte her auch nicht so wirklich interessant.
Renate Wagner, 17. Juni 2024
The gospel according to the other Mary
Ein Passions-Oratorium von John Adams und Peter Sellars
Österreichische Erstaufführung
im Rahmen der Wiener Festwochen
Volksoper Wien
Premiere 16. Juni 2024
Inszenierung: Lisenka Heijboer
Musikalische Leitung: Nicole Paiement
Chor und Orchester der Volksoper Wien