„Welche Möglichkeiten der Inszenierung ließen sich denken angesichts eines Werks, das die Idee von Inszenierung einerseits vollkommen zu verweigern scheint, diese andererseits jedoch so vehement in sich trägt, dass sie jedem Besucher wie ein Naturzustand entgegentritt?“ Scheint es nicht so, als würde, wie der Dramaturg Malte Ubenauf es einst suggeriert hat, im Werk jenes „Berühr mich nicht“ zur Idee werden, mit dem die Titelheldin sich in die (äußerlich dürre) Handlung einführt?
Wer sich die Neuinszenierung von Debussys einziger vollendeter Oper im Nürnberger Staatstheater anschaut, bekommt wieder den Bescheid, dass sich die Beschreibung einer „Inszenierung“ nicht, wie es gelegentlich vorkommt, in der Skizzierung des Bühnenbilds beschränken kann. Es sind wieder die spielenden und singenden Menschen, die über den Opernabend entscheiden. Die Frage, ob eine in mystisches Dunkel getauchte, scheinbar geheimnisvolle Deutung oder eine gleichsam realistische Interpretation des symbolistischen Musikdramas „richtig“ oder „falsch“ ist, ist freilich kaum zu beantworten. Vernebelt man nicht die Wahrheiten, die Maeterlinck und Debussy geschaffen haben, wenn man auf eine fantastisch-ferne Welt setzt? Oder banalisiert man nicht die bewusste Mehrdeutigkeit, die die Schöpfer des Werks ja nicht grundlos zur ästhetischen Maxime erhoben, wenn man die Handlung in irgendeiner stilistischen Gegenwart verortet? Und kommt man nicht an Geschmacksgrenzen, wenn man die Szene, in der sich der jugendliche Liebhaber ins ellenlange Haar der Mélisande schmiegt, so bringt, wie sie 1902 zu sehen war?
Zugegeben: Das Unbewusste, das Geheimnisvolle und Unsagbare, das Schwebende und Untergründige, strukturiert ebenso die Partitur wie die Handlung dieses Dramas, das in seiner symbolistischen Seelenhaftigkeit fast vergessen lässt, dass hier durchaus aktuelle Konflikte einer kranken Bürgerlichkeit von anno 1900 verhandelt werden. „Fast nichts fehlt von ihren Ingredienzien und Würzen: Liebe, Eifersucht, Gewalttätigkeit, Verfluchung, Mord“, wie Pierre Boulez in seinem bedeutenden Essay zu Pelléas und Mélisande einmal schrieb. Nein, das Drame lyrique spielt nicht in einer undatierbaren Vorzeit. Dass auch und gerade um 1900 bürgerliche Familienkonflikte von der Art, wie sie das Werk zeigt, nicht ungewöhnlich waren und die Musik durchaus nicht irgendwie „impressionistisch“ vor sich hin wabert, kann jedes Mal gezeigt werden. Debussys Partitur klingt denn auch, wenn Björn Huestege die Staatsphilharmonie Nürnberg leitet, klar genug, um das Drama zu befestigen. Kein Nebel, sondern luzides Leuchten. Keine Gefühligkeiten, sondern klare dramatische Entwicklungen, in denen die Erinnerungsmotive erkannt werden können, so dass fast die Struktur eines Rondos hörbar wird. Keine im Dämmer versinkenden Farbmischungen, sondern dunkle und helle Farben.
Die wenigen Protagonisten des „lyrischen Dramas“ erscheinen unter der Regie von Jens-Daniel Herzog nicht als Nachtgestalten einer trübsinnigen Allemonde, sondern als durchaus aktive Spieler. Es funktioniert – weil uns kein Mensch sagen kann, ob die Spieler die Wahrheit sagen, wenn sie dies oder jenes äußern. Wo die Tradition eines angeblich märchenhaften Stoffs den Blick auf die Konflikte der Figuren verdeckt, entdecken die Akteure – das unheilvolle Beziehungsquartett von Pelléas, Mélisande, Golaud und Arkel – eine durchaus vitale Figurenkonstellation. Besteht die einzige Natur im reichlich wabernden Nebel, der aus den Tiefen (!) der Drehbühne mit ihrem Riesenkubus aufsteigt, spielt sich die Handlung in einem von Mathis Neidhardt entworfenen hellen Innenraum (meist das ungemütliche Esszimmer der bürgerlichen Familie, an dem als einziges Requisit das Schwert hängt, mit dem Golaud am Ende seinen Bruder töten wird) und einem schwarzen Außenraum ab; letzterer verfügt, kein Zufall, wie bei einem Schiff über eine schmale steile und wandseitige Treppe. Ein Schiff, also ein abgeschlossener Raum, ist ja auch diese Familie. Was unten ist, die „Grotte“ und der „Brunnen“, ist weit entfernt von irgendeinem Naturalismus. Meist funktioniert das auch, weil die Spieler und die Musiker die Hauptsache: die Geschichte, auch ohne diese mystischen Orte erzählen können. Man könnte nur die drei Alten vermissen, die in der „Grotte“ (tot?) vor sich hin schlafen, wofür, ebenso wenig wie für die von Yniold gehörten schreienden Schafe, die vermutlich zur Schlachtbank geführt werden, schlicht und einfach kein inszeniertes Äquivalent gefunden worden ist. Doch das allgegenwärtige dunkle Meer ist nicht fern, wird auch in Pelléas’ Kostüm zitiert. Pelléas aber ist ein seltsamer junger Mann, der in Gegenwart seiner Familie verdruckst erscheint, während er bei Mélisande auftaut. Mélisande ist keine femme fragile, kein Rührmichnichtan, eher ein gelind durchtriebenes, durchaus selbstbewusstes Wesen, das in einer Jeansjacke auftritt (während Golaud in einem Jägerkostüm des 19. Jahrhunderts erscheint) und durchaus absichtlich den Ehering verschwinden lässt: als eigensinnige, nicht als „naive“ Frau. Am Ende wird sie an einer Nachgeburt in Gegenwart des Arztes und der Familie hilflos verbluten, während die Überlebenden das Kind feiern, das die Dynastie in die Zukunft tragen wird. Das sind so Auswüchse einer Regie, die immer vom Allerschlimmsten ausgeht. Nun ja, schließlich handelt es sich ja auch, um eine, wie herzog sagt, „schreckliche Familie“. Man kann’s auch anders sehen, milder, man könnte die balsamischen Reden des alten Arkel auch für tiefe Philosophien und nicht für seniles Gerede halten, aber die Musik gibt nicht wirklich eine Auskunft über das Innere der Figuren.
Wichtiger als die gelegentlichen Regie- und Dramaturgieschludrigkeiten ist die Tatsache, dass Chloë Morgan die Mélisande durchaus ansprechend singt. Mélisande ist keine Partie, die zum Forcieren auffordert, vieles spielt sich im Piano- und Mezzoforte-Bereich ab. Morgan macht das mit einem Ton, der zur szenischen Interpretation, der zwischen Sensibilität und Widerständigkeit changierenden Figur trefflich passt. Sie spielt, aber das war sie auch schon bei Maeterlinck nicht mehr, keine somnambule Gestalt, sondern eine Person, die weiß, wen sie zu belügen hat. Samuel Hasselhorn ist der Pelléas: ein lyrischer Heldenbariton, der den zwischen Unterdrückung und aufblühender Liebe, Schein und Sein agierender junger Mann zudem noch glänzend spielen vermag. Hervorragend auch Sangmin Lee, der dem Golaud zwischen Unsicherheit und Brutalität, Zweifel und Aktivität Farbe und eine durchaus noble wie charakteristische Stimmstatur verleiht. Taras Konoshchenko mimt und singt das Familienoberhaupt: nicht als langbärtigen Greis, sondern als leicht widerlichen Mann, der seine Familie mit dem Gesetz des Ptriarchen regiert; kein Wunder, dass die junge Frau, die von außen in die Familie kommt, Probleme mit den Allemondes hat. Helena Köhne hat zwar, als Geneviève, nur einen guten Auftritt, streicht aber fünf Akte lang durch die Handlung: bewusst als stumme Rolle.
Mit einem Wort: bietet der Abend musikalisch nur Schönes, so Verzauberndes wie dramatisch Packendes auf, so zeigte er für einige Besucher das eher nüchterne und „unromantische“ Bild einer Welt, die man und frau gern geheimnisvoller, verrätselter, märchenhafter gesehen hätte. Am Ende seines Essays über Pelléas und Mélisande hat Malte Ubenauf ein Wort des Meterlinck- und Debussy-Zeitgenossen Gaston Bachelard zitiert: „Wir müssen frei bleiben gegen jede definitive Anschauung“.
Nur kann man nicht eine Oper auf die Bühne bringen, ohne eine konkrete Anschauung zu geben, mag sie auch traumverhangen sein. Der Nürnberger Pelléas ist nur eine von sehr verschiedenen Möglichkeiten, das Werk zu realisieren: nicht zuletzt mit einem erstklassigen Ensemble, das Debussys Musikdrama so genau und detailreich spielt, dass man es emotional und intellektuell zu begreifen vermag.
Frank Piontek, 25. Juni 2024
Pelléas und Mélisande
Claude Debussy / Maurice Maeterlinck
Staatstheater Nürnberg
Premiere: 8. Juni 2024
Besuchte Aufführung: 24. Juni 2024
Regie: Jens-Daniel Herzog
Musikalische Leitung: Björn Huestege
Staatsphilharmonie Nürnberg