Bayreuth: „Ifigenia in Aulide“, Nicola Porpora

Vielleicht könnte man irgendwann das Festival Bayreuth Baroque in Nicola-Porpora-Festspiele umbenennen – denn kein Komponist kam seit der Gründung so oft auf die Bühne wie der neapolitanische Musiker.

2020 begann es mit einem sensationellen Einstieg: als Carlo il Calvo nach rund 300 Jahren im Markgräflichen Opernhaus glanzvoll wiedererstand. Ist heute von Porpora die Rede, so verbindet sich der Name nicht allein, aber bevorzugt mit dem Bayreuth Baroque. Carlo il Calvo, Polifemo – und nun Ifigenia in Aulide. Wir bleiben im gleichen Zeitraum, denn die Iphigenie-Oper entstand, wie die komische Oper über den einäugigen Riesen, 1735, als Porpora als Händels Konkurrent in London Triumphe feierte. Wieder steht Max Emanuel Cencic in einer Hauptrolle auf der Bühne, wieder hat der künstlerische Leiter des Festivals Regie geführt. Er wird als indisponiert angekündigt, aber selbst ein indisponierter Cencic klingt, bei aller Zurückhaltung, noch so gut und so ausgewogen, dass das Publikum am Ende aus dem berühmten Häuschen ist; begeisterten Beifall gab es schon vorher nach fast jeder Arie. Nach einigen lyrischen „Nummern“ bleibt er aus, woran man merkt, dass das Publikum des Bayreuth Baroque – international wie das der anderen Bayreuther Festspiele – musikalisch gebildeter und höflicher ist als das der Wagner-Festspiele. Auch hat man während der Aufführung keine Handys aufblitzen sehen…

© Clemens Manser

„Nummern“? Ist Porporas Dramaturgie „nur“ eine Dramaturgie der geläufigen Gurgeln? Oder birgt die Ausstellung stimmlicher Qualitäten so etwas wie – die Deutschen mögen, glaube ich, das immer noch – „Tiefe“? Beides aber widerspricht sich nicht. Im Gegenteil: Wenn die Sänger, ausnahmslos Spitzenkräfte ihres Gewerbes, ihre Helden und Väter, Töchter und Priester so spielen und singen, dass wir ihren Geschichten und Emotionen glauben, wird die Nummernoper zum Musikdrama. Dem widersprechen nicht die Typisierungen der Opera seria, die mit Porpora einen italienischen Höhepunkt erlebte; kein Wunder, dass der Mann nicht nur als Stimmlehrer gefragt war. Gut, der fast gleichaltrige Händel war zukunftsweisender, einfallsreicher, delikater im Austarieren von Stimmung und Form – aber einen derart guten Porpora serviert zu bekommen bedeutet auch, einen erregenden Abend zu erleben, an dem die Frage nach dem Verhältnis von Konvention und Innovation sinnlos wird. Wenn Maayan Licht einen zutiefst betörenden Achill singt, dem der Komponist unendlich lange und doch nicht zu lange Kantilenen einer schmerzerfüllten Lyrik in die Kehle gelegt hat, wenn der Bassist Riccardo Novaro einen orthodoxen Oberpriester ausstellt und in waghalsigen Notenketten eine schier überwältigende Virtuosität in den Raum schickt, ist des Hörers Glück vollkommen. Gleichermaßen tief bewegend wirkt Iphigenies Abschiedsarie vom Leben: eine langsame, in Moll getauchte Siciliana fließt in unsere Ohren. Jasmin Delfs ist eine in allen Höhen- und Tiefenlagen souverän vermittelnde, die Übergänge bruchlos gestaltende wie stimmschöne Interpretin der Rolle: zumindest musikalisch. Denn Cencic kam auf die faszinierende Idee, die Titelrolle zweizuteilen. Während die Königstochter von einer jungen Frau – Marina Diakoumakou – bewusst reduziert gemimt wird, steht Delfs als Diana neben ihr. Man sieht: Die Göttin singt aus ihr, veranstaltet vielleicht mit den Menschen einen moralischen Test, bevor sie selbst das erlösende Urteil fällt, ja: fällen muss. Cencic sagte, dass „unsere Jugend unserem Lebensstil geopfert“ werde und Diana das Göttliche, d.h. die Natur repräsentiere. In diesem Sinne wäre die Frau, die für den Fortgang des Kriegszugs geopfert werden soll, ein reines Objekt politischer Interessen. Oder bzw. denn: die junge Frau hat keine Persönlichkeit, ist Spielball der Männer (auch Achills, wenn man es genau betrachtet), hat quasi keine eigene Stimme. Marina Diakoumakou sieht denn auch, gleichsam rollendeckend, wie ein unschuldiges junges – nein, nicht „Ding“, aus, aber sie wird zumindest vom Oberpriester Kalchas so behandelt.

© Falk von Traubenberg

Kalchas tritt daher wie ein römischer, nicht zufällig blutrot gewandeter Inquisitor auf. Zentrale Szene der Oper ist denn auch die Auseinandersetzung zwischen Achill und dem Kirchenmann. Verteidigt der Liebende das Recht auf das junge Leben, beharrt der Dogmatiker auf die Macht der Götter, womit er, da hat Achill völlig recht, eher den Machtanspruch der Institution meint. Schade, dass wir nicht zu wissen scheinen, wie man 1735 auf diese Diskussion geschaut hat, aber klar ist, dass es hier um nichts weniger als um die Aufklärung im Medium der Oper ging. Ähnlichkeiten noch mit der Gegenwart sind übrigens rein zufällig …

So betrachtet, ist die Nummernoper zur Befriedigung eines vergnügungssüchtigen Publikums und einiger notorisch eitler Sängerstars denn doch mehr als eine „konventionelle“ Opera seria. Oder anders: Porpora und sein Librettist Paolo Antonio Rolli gewannen dem Stoff eine Aktualität ab, wie sie nur wenige Jahrzehnte später Goethe mit seiner Fassung des Mythos in die Spannung von Barbarei und „verteufelter Humanität“ (O-Ton Goethe) einzig. Aktuell bleiben die Liebesschmerzen des Liebhabers, die Verlustschmerzen des Vaters und der Mutter, der seltsame Opferwille der Tochter, der sich heute – und wohl auch damals – nicht von selbst verstand und versteht, nicht zuletzt das Wüten des Priesters. Die Musik legitimiert das alles, bringt es, stimmschön und elegant, in die Gegenwart, so dass zwischen 1735 und 2024 kein Notenpapier mehr passt. Der Mythos, so „vertont“, bleibt immer neu, die Stimmen transportieren ein zeitlos scheinendes Drama: gerade durch die Konvention einer barocken Nummernoper, gerade durch sog. Bravour-Arien, in denen das Innere zum Außen wird, nicht zuletzt durch die lyrischen Arien, deren Interpretation nicht verzaubernder sein könnte.

© Clemens Manser

Manchmal habe ich den Eindruck, dass ein Werk, das vor 1789 geschrieben wurde, oft aktueller, heutiger, unbedingter ist als, sagen wir, eine sog. Romantische Oper. Cencic betont dieses Aktuelle, indem er seine Bühnen- und Kostümbildnerin Giorgina Germanou eine Reihe von verschiebbaren Elementen entwerfen ließ, die zusammengesetzt ein barockes Iphigenie-Bild oder eine wie von blutigen Striemen durchfurchte Marmorlandschaft zeigen. Zwischendurch schieben die Myrmidonen, also Achills Kampftruppe, verdorrte, nicht mehr wurzelnde Bäume auf die Szene: Zeichen einer geschändeten Natur, in der die Hirschkuh der Göttin Diana nur ein Opfer ist. Diana tritt, maskiert, in einem schwarz glitzernden Gewand auf, Iphigenie wird, kurz vor dem anberaumten Opferritual, auch das Geweih einer (jungen) Hirschkuh tragen. Cencic versteht sich auf die Kunst, strenge Formen mit elementaren Emotionsbildern anzureichern; wenn die Figuren ihre Trauer hinaussingen, tun sie es in einem künstlich gestalteten Bühnenraum, ohne dass den transportierten Gefühlen etwas abgeschnitten würde. Am Ende gehen die Göttin und Iphigenie ab; die „Kleine“ braucht ihren Schutz, muss die Männerwelt verlassen, die es nicht fertig gebracht hat, sie menschlich zu behandeln. Das ist konsequent, ohne am Text irgendetwas zu verändern.

Der Rest ist eh die Musik, die Stimme, das Pathos. Neben dem glänzenden Counter-Achill des Maayan Licht, der herrlich sonoren Iphigenie der Jasmin Delfs, dem warm tönenden Counter-Agamemnon des Max Emanuel Cencic und dem deklamatorisch überzeugenden Bass des Riccardo Novaro stehen Mary-Ellen Nesi als Klytämnestra und Nicolò Balducci als hochtönend wendiger Counter-Odysseus: zwei „Nebenrollen“, die indes nicht schlechter besetzt wurden als die Hauptpartien. Er ist ein hoher Counter, sie ein dramatisch bewegter Mezzo, bei dem die „Nebenrolle“ zu einer Hauptrolle wird. Das Ganze aber wird grundiert vom Orchester Les Talens Lyriques unter seinem Leiter Christophe Rousset. Flüssiger, farbiger, dabei doch nicht exzentrisch oder aufgesetzt, kann man auch die Orchesterkunst des alten Porpora nicht ins Heute holen. Es gilt auch für die Interpretation des Werks, durch die Regie und durch die Sänger, bei denen sich geläufige Gurgeln, psychologische (ja: psychologische) Dia- und Monologe und einfach nur wohltuend schöne und die bekannten swingenden Arien (Trommelbässe!) ein betörendes Stelldichein geben.

© Clemens Manser

Auch das fünfte Bayreuth Baroque ging also glückhaft über die Bühne des Markgräflichen Opernhauses, das für Abende wie diesen – und nur für Abende wie diesen – geschaffen wurde.

Frank Piontek, 6. September 2024


Ifigenia in Aulide
Nicola Porpora, Paolo Antonio Rolli

Markgräfliches Opernhaus, Bayreuth

Premiere: 5. September 2024

Musikalische Leitung: Christophe Rousset
Les Talens Lyriques