Eigentlich – und uneigentlich – hätte an diesem Abend Jakub Jószef Orliński im Markgräflichen Opernhaus ein Konzert geben sollen – doch war er krankheitshalber verhindert. Atte er sich erkältet, als er letztens während der grandiosen Olympia-Eröffnung im nasskalten Wetter auf der Seine das machte, was ihn berühmt machte: zugleich singen und breakdancen? Man war nun in der glüchhaften Situation, einen Countertenor zu engagieren, den als „Ersatz“ zu bezeichnen unangemessen wäre. Denn als Einspringer hat Bruno de Sá ein vollwertiges Recital gestaltet, bei dem am Ende lediglich die liebenswürdige Live-Videonachricht des „Neuen“ und des Publikums an den erkrankten Sänger an denselben erinnerte. Die Jubelrufe waren ja schon nach jeder Arie derart beschaffen, als wäre es der Schlussapplaus, der finalmente drei veritable Zugaben provozierte.
Möglich war die Umbesetzung auch deshalb, weil mit dem Instrumentalensemble Il Pomo d‘Oro jenes Orchester auf der Bühne stand, das auch mit Orliński musiziert hätte; mit Bruno de Sá hat es zudem schon mehrmals konzertiert. 2022 nahm man zudem gemeinsam ein Album auf (aus dem am Abend kein Stück im offiziell ausgedruckten Programm zu hören war). Respekt also für den Sänger und seine Musiker, die zusammen geradezu symbiotisch agierten: Er auf jenem hohen Niveau des wie mühelos (und ausdauernd!) durch die teils sehr langen, eben typischen barocken Opern-Arien hindurchsingenden Soprans, sie, die mit größter Spielfreude, feinster linienmäßiger Ziselierarbeit und klanglich beherztem Zugriff (der Violoncelliust Ludovico Minasi) die Werke Händels, Vivaldis, Hasses und Porporas eroberten. Das deutlich zweigeteilte Programm machte sinnigerweise mit den zwei Spielarten der barocken Muse bekannt, die sich unheimlich nahe standen: die geistliche und die weltliche. Händels Gloria in Excelsis Deo HWV 245, ein Frühwerk, das einst einem anderen Komponisten zugeschrieben wurde, und Vivaldis Solo-Motette In furore iustissimae irae RV 626: sie stehen für das Beste der italienischen Kirchenmusik ein, in der sich die Trauer- mit den Freudentränen und ein durchaus irdisch gesinntes Vergnügen mit mediterraner Glaubensinbrunst kreuzt.
Auch deshalb sind die beiden, im Sinne Goethes bedeutenden Werke der ideale Einstieg für den Soranisten, dessen Stimme nicht allein in Vivaldis sinnlich-seeliger Tunc meus-Arie schlicht-schön in den Raum dringt. Um es pathetisch auszudrücken: Bruno de Sás hoher wie reiner wie weicher Sopran scheint jenen Engelsstimmen zu gleichen, die hörbar-unhörbar aus den barocken Gemälden zu uns singen: wie von fern, aber ganz nah (woran gewiss auch die trockene, doch gute Akustik des hözernen Bayreuther Logenhauses ihren Anteil hat). De Sá genügen einfache Dreiachtelbeewgungen, um ein Maximum an Ausdruck aus den scheinbar simpel dahinschreitenden Noten zu gewinnen und aus den langen Vokalisen kleine C-Dur-Ereignisse zu machen, bevor das Alleluia mit seinen Sechzehntelwellen schliesslich den Hörer gleichsam glorios überwältigt.
Il Pomo d‘Oro bringt uns gleichzeitig mit seiner Leiterin, der ersten Violine Alfia Bakieva, einen Tempesta di mare ins Haus, wie er auch für Vivaldis geistliche Werke typisch ist. Es ist immer wieder erstaunlich, in den strukturell primitiven Akkordbrechungen, Skalenabstürzen und Trommelbässen eine stets vergnügende Musik zu entdecken. Köstlich auch die Duette und Terzette, die in den Arien entstehen, wenn die beiden Violinen (neben Bakieva steht Jonathan Ponet) mit dem Sänger vogelstimmenartig freundlich konkurrieren und der Kornettist in Händels Qui l‘augel (aus Aci, Galatea e Polifemo) sich am vokalen Spiel beteiligt.
Äußerst spannend sind ja schon die teils schroff artikulierten Instrumentalwerke: Johann Adolf Hasses Adagio e Fuga (Seconda parte), Johann Kaspar Kerlls harmonisch aufregende F-Dur-Sonate für zwei Violinen und Carlo Pallavicinos Sinfonia zum Demetrio. Nebenbei: All diese Perlen beweisen, wie avantgardistisch die Musik des 17. Jahrhunderts war – man muss diesen Avantgardismus nur so herausspielen können wie Il Pomo d‘Oro.
Kontraste sind auch hier wichtig, nach der Händel-Arie folgt mit Hasses Un sol tuo sospiro (aus Marc‘Antonio e Cleopatra) eine schnelle und heitere Arie, in der de Sá nicht zum letzten Mal seine quecksilbrige Virtuosität ausstellen kann. Dem geheimen Schirmherren des Festivals, Nicola Porpora, wird mit dem tief lyrischen wie beseelt ausgesungenen Parto ti lascio (aus Germanico in Germania) Reverenz erwiesen, bevor mit einer Arie aus Vivaldis Olimpia (Siam navi all‘onde algenti) seine Lust am Improvisieren, seine Souveränität in Sachen Färbung und absoluter Tonsicherheit das Programm offiziell abschliesst. Riesenbeifall also von einem enthusiastisch aufgelegten Publikum, dem am Ende nicht allein drei Arienzugaben, sondern vom ausgesprochen entspannt wirkenden Sänger auch einige Samba-Schritte geschenkt werden.
Thomas Mann hätte das Alles zweifellos als „Fülle des Wohllauts“ bezeichnet. Wie schade, dass er Bruno de Sá nicht kannte! Zweifellos hätte er ihm im berühmten Schallplatten-Kapitel des Zauberbergs ein paar Absätze eingeräumt. Schon seine Interpretation einer Perle wie der naturalistischen Händel-Aroe inkl. Instrumentarium hätte den Großmeister des deutschen Romans sicher zu einigen charakteristischen Beschreibungen animiert.
Frank Piontek, 7. September 2024
Bayreuth Baroque
Gala-Konzert Bruno de Sá
6. September 2024
Markgräfliches Opernhaus, Bayreuth
Il Pomo d‘Oro
Leitung: Alfia Bakieva