Es waren nicht Sinfonische Dichtungen im engeren Sinne, welche das Rotterdam Philharmonic Orchestra unter der Leitung seines energiegeladenen Chefdirigenten Lahav Shani für sein Gastspiel beim Lucerne Festival im Gepäck hatten, wohl aber drei Tongemälde, welche auf ihre ganz unterschiedliche Art und Weise enormes suggestives Potential beinhalteten. Mendelssohn, Debussy und Ravel setzten nicht eine konkrete Handlung in Musik um, wohl aber nahmen die drei Komponisten inspiriert von einem Gedicht Goethes (Mendelssohn), einem japanischen Farbholzschnitt (Debussy) oder einem Wiener Walzerrausch (Ravel) Stimmungen auf, die sie in betörende Klänge setzten, welche den Hörern viel Raum für assoziative Gedanken öffnen. Somit war die programmatische Konzeption des Abends keineswegs beliebig, sondern hatte einen inneren Bogen.
Ursprünglich war geplant gewesen, dass die Stargeigerin Lisa Batiashvili Mozarts fünftes Violinkonzert spielen würde, das oftmals auch als „Miniaturoper“ bezeichnet wurde und somit ausgezeichnet in den musikalisch-programmatischen Bilderreigen gepasst hätte.
Doch in einem Beilagen Zettel des Programmhefts erfuhr man, dass anstelle von Mozarts letztem Beethovens einziges Violinkonzert erklingen würde. Beethovens geniales D-Dur Konzert ist ein weitaus gewichtigerer, tiefgründigerer Brocken als Mozarts leichtfüßiges, spritziges Werk (das ich natürlich auch sehr gerne mag). Beethoven geht ungemein in die Tiefe, lotet – wie es meistens seinem Charakter entsprach – auch in seinem Violinkonzert ein lichtes humanistisches Gedankengut aus, führt die Musik vom pochenden Paukenmotiv des Beginns mit vorwärtsdrängender Kraft und gewaltiger Energie zum reflektiv-tröstenden Larghetto-Gesang und attacca zum jubelnden Rondo Finale – irgendwie auch wie ein in beglückende Töne gesetztes Gedicht und somit auch ein thematisch perfekt ins Programm passender Schwerpunkt. Die Klänge, welche Lisa Batiashvili ihrer Guarneri del Gesú Violine entlockte, schienen nicht von dieser Welt zu sein. Das war alles von blitzsauberer Reinheit der Intonation geprägt, einer dynamischen Abstufung, die einen von Beginn weg (nach der langen Orchestereinleitung war sie dauerpräsent) fesselte und einer Virtuosität in den fein verästelten Koloraturen und Fiorituren, die einen mit Glückseligkeit überflutete.
Dabei erklang diese Virtuosität nie als selbstgefälliger, zirzensischer Akt, sondern war erfüllt mit Wärme und Ausdruckskraft. Feinste Triller in aberwitzig hohen Lagen, flinke, bestechend saubere Läufe, traumhaft schön mit den klanglichen Grundierungen des Orchesters harmonierend, elegisch-verträumte Passagen im Wechsel mit beschwingt tänzerischen Wendungen von einer atemberaubenden Wendig- und Lebendigkeit geprägt, ein aufregendes und spannungs- und energiegeladenes Miteinander von Orchester, Solistin und Dirigent – schlicht eine Sternstunde!
Außerdem evozierte Lisa Batiaschvili eine faszinierende Gesanglichkeit mit ihrem kostbaren Instrument und ließ einen während der Kadenzen (sie spielte die von Fritz Kreisler) im ersten und im Schlusssatz atemlos an der Stuhlkante verharren. In diesen Momenten herrschte eine absolute Ruhe im Saal, eine gespannte Aufmerksamkeit. Lahav Shani leitete dieses Violinkonzert mit wunderbarer Übersicht und einer fantastischen klanglichen Disponierung, wusste durchaus markante Akzente zu setzen und man spürte in keinem Moment eine Hast, auch im beschwingten Rondo-Finale nicht, wo er die Kantilenen sehr schön ausmusizieren ließ. Dabei blieb der Lead gefühlt stets bei der Solistin, auf deren Interpretation er perfekt einzugehen vermochte. Herausragend spielten die Holz- und die Blechbläser des Rotterdam Philharmonic Orchestras. Selbstredend wollte das begeisterte Publikum den diesjährigen Artist in Residence des Lucerne Festivals nicht so ohne weiteres vom Podium gehen lassen. Lisa Batiashvili bedankte sich mit einer wunderbar verinnerlichten und von Streichersolisten unter Lahav Shanis Leitung begleiteten Interpretation von Bachs Air aus der Suite Nr. 3 in D-Dur. Zum Dahinschmelzen schön!
Den klangimpressionistischen Anfangspunkten setzte das Rotterdam Philharmonic Orchestra mit Mendelssohns Konzertouvertüre Meeresstille in D-Dur, op. 27. Im ersten Teil dieses auf Goethes beiden Gedichten Fußenden Stücks, dem Adagio mit den langgehaltenen Tönen, bewies das Orchester die hohe Qualität seines Streicherklangs. Die suggerierte Weite – und auch bedrohliche Stille – des Ozeans entstand vor dem inneren Auge, bevor im Allegro- und Vivace Teil der Wind aufkam und somit die glückliche Fahrt in ein an C.M. von Weber gemahnendes Jubel-Finale führte und eine Trompetenfanfare von der geglückten Ankunft Kunde tat – mit einem Hauch von Wehmut in der letzten Kantilene der Streicher und des Holzes. Wunderbar!
Komplexer und mystischer wurden die Impressionen des Wassers und des Meeres, welche Claude Debussy so reich an instrumentalen Farben in Musik gesetzt hatte. Bei ihm bekommt La Mer Züge des Abgründigen, nicht Enträtselbaren. Zu den vom Rottardam Philharmonic Orchestra und Lahav Shani so feinfühlig evozierten Stimmungsbildern tauchte man noch so gerne in eine mal stürmische, dann wieder fast beängstigend ruhige Welt ein, horchte mit größer Freude auf solistische Einsprengsel des Englischhorns, der Oboe, der Klarinette oder der Solovioline der Konzertmeisterin. Die acht Kontrabässe, die zwei Harfen, das Kontrafagott, das dezent eingesetzte, aber reichhaltige Schlagzeug und Glockenspiel zusammen mit dem groß besetzten klassischen Sinfonieorchester führten zu einem die Sinne betörenden Klangerlebnis.
Shani und seinem Orchester gelang es in diesem Stück hervorragend, die Balance zu halten und für eine glasklare Transparenz zu sorgen, ohne dass das Werk seine impressionistische Sinnlichkeit und seinen zeitweisen geradezu ekstatischen Charakter einbüßte. Dies traf auch auf das das Konzert offiziell beschließende Werk von Maurice Ravel zu: La Valse. Shani ließ das Orchester sich in einen schrägen Walzerrausch steigern, dessen Sog zu entrinnen unmöglich war. Wie sich die Walzermelodien wie hinter Schleiern entwickelten, aufbäumten und wieder zusammenfielen, sich in einer gewaltigen, rauschhaften Raserei entluden, führte zu einem nachdenklich stimmenden Sinnieren über Lust, verführerische Sucht und Gefahr. Die schmissige Zugabe, Prokofiev Marsch h-Moll op. 99, des Orchesters am Ende war dann von purer, mitreißender Lust geprägt.
Kaspar Sannemann, 16. September 2024
Konzert
Luzern
KKL
25. August 2024 (Nachtrag)
Lisa Lisa Batiashvili
Dirigat: Lahav Shani
Rotterdam Philharmonic Orchestra