Luzern, Konzert: „Schumann, Brahms“, Daniel Harding featuring Daniil Trifonov

Das Mahler Chamber Orchestra mit seinem Conductor Laureate Daniel Harding und der Pianist Daniil Trifonov spürten gestern Abend im KKL Luzern der romantischen Seele nach, tauchten tief ein in pastorale Idyllen, Mittelaltersehnsucht, aber auch in Wahn, Somnambulismus, ergründeten Fantasie- und Gegenwelten, zeigten den sensiblen Menschen in seinem Streben nach Erkenntnis. Dieser Seelentrip durch die Welt der Romantik erfolgte in drei Werken von zwei Exponenten der romantischen Epoche, nämlich von Robert Schumann und dem von ihm geförderten Johannes Brahms.

Exemplarisch für das Thema des Abends bereits der Auftakt zum Konzert: Schumanns Ouvertüre zur Schauspielmusik zu Lord Byrons dramatischem Gedicht MANFRED. Düster und abgründig erklang das eröffnende Thema, Manfred will sich von der Jungfrau in den Tod stürzen, wird vom Gamsjäger gerettet. Danach folgt eine Achterbahnfahrt der Gefühlswelten dieses labilen byronschen „Helden“. Wunderbar subtil intonierte das Mahler Chamber Orchestra die Geisterwelten, welche Manfred anruft. Daniel Harding arbeitete die dynamischen Kontraste feinfühlig heraus, ohne in plakative Expressivität zu verfallen. Er und sein Orchester nahmen die Zuhörer mit in eine expressive Klanglandschaft, in welcher man die Stimmungen wahrnahm, auch wenn man mit dem Inhalt der Literaturvorlage nicht vertraut war. Die MANFRED-Ouvertüre ist ein fesselndes Stück, das zum intensiven Zuhören einlädt – und genau dies gelang Daniel Harding und dem Mahler Chamber Orchestera hervorragend. Gerade das beinahe unhörbare Verklingen am Ende, das Aushauchen des Lebens und das Entschwinden der Seele waren von einer delikaten Tongebung der Extraklasse, wie sie eben nur ein Spitzenorchester vom Rang des Mahler Chamber Orchestras zustande bringt.

Während der MANFRED-Ouvertüre Schumanns zugegebenermaßen auch eine gewisse, für Schumanns Spätwerk typische, aber irgendwie geradezu moderne Sperrigkeit innewohnt, ist das Zwischen 1841 und 1845 entstandene Klavierkonzert leichter zugänglich. Mit den souveränen Akkord-Kaskaden der Eröffnung des Kopfsatzes und dem Einstieg ins Hauptthema nahm der Pianist Daniil Trifonov das Publikum auf Anhieb gefangen und man lauschte während der folgenden guten halben Stunde gebannt dem intensiven Dialog zwischen Solist und Orchester, ein Dialog, der mit einer exzeptionellen Selbstverständlichkeit und uneitlen Natürlichkeit daherkam, die bass erstaunte. Die schnellen Passagen in den Ecksätzen wurden nie zu virtuosen Showcases, Dirigent und Solist waren perfekt aufeinander abgestimmt, es war ein Musizieren im gegenseiteigen Aufgehoben sein und geprägt von immensem Vertrauen – das Resultat schlicht von überwältigender Kraft und Eindringlichkeit. Großen Anteil am intensiven Hörerlebnis hatten die Musiker des Mahler Chamber Orchestras, die an allen Pulten mit aufregenden und stimmungsvoll intonierten Passagen glänzten, besonders erwähnenswert die Oboe, welche oftmals die Themenvorgabe lieferte, welche dann vom Solisten und dem Orchester aufgenommen wurde. Als Trifonov dann zur Kadenz ansetzte, erklang ein Klavierspiel, das nicht von dieser Welt schien, die endlosen, blitzsauber ausgeführten Triller der einen Hand in perfekter Harmonie mit den Akkorden und Phrasen der anderen Hand. Im Mittelsatz, dem Intermezzo (Andantino grazioso), wurde von den Ausführenden gekonnt der lyrischen, introspektiven Stimmung nachgespürt, ein Moment der Ruhe evoziert, bevor sie in den brillant ausgeführten Finalsatz einstiegen. Auch in diesem Allegro Vivace dosierte Daniel Harding mit fantastischer Feinfühligkeit die Dynamik, liess das Orchester nie überbordend laut werden, setzte die Effekte der Erstrahlung des Hauptmotivs mit subtiler Differenzierungskunst, so dass das Thema auch Schattierungen annahm, die in ihren Vielschichtigkeiten eben der romantischen Seele entsprachen.

Daniil Trifonov ließ sich durch den begeisterten Applaus natürlich zu einer Zugabe bewegen: Mit fantastischer Schlichtheit und exquisiter Anschlagstechnik spielte er die für Klavier arrangierte Rondo-Gavotte aus der Partita für Solovioline Nr. 3, BWV 1006 – man hätte dem einfühlsamen, unprätentiösen Meisterpianisten noch länger zuhören können.

Nach der Pause dann Brahms dritte Sinfonie, ein Werk, dem oft nachgesagt wird, es sei zu lieblich, zu pastoral gehalten. Daniel Harding und das Mahler Chamber Orchestera arbeiteten selbstredend diese Aspekte der Hochromantik heraus, daneben aber gab es zu Recht auch Passagen der Schauerromantik (wie zu Beginn in Schumanns MANFRED-Ouvertüre) zu erleben. Brahms liess ja alle vier Sätze still und verhalten verklingen, kein „vom Dunkel ins Licht“, kein Pathos, keine Verklärung in Apotheosen wie bei seinem „Konkurrenten“ Bruckner, dafür brillante, durchdachte Orchestrierung und Formvollendung. Wie oft bei Brahms‘ Werken ist der romantische Klang der Hörner sehr wichtig – und mit dem stupenden Hornquartett des Mahler Chamber Orchestras gerieten diese wichtigen Passagen zum Ereignis. Nach dem reichhaltig instrumentierten Kopfsatz in Sonatenform folgte das lyrische Andante, dessen von den Holzbläsern meisterhaft hervorgezauberte Idylle immer wieder durch geisterhafte Streicherpassagen aufgebrochen und konterkariert wurde. Das melancholische, wie ein elegischer Walzer daherkommende Poco Allegretto ist eines von den Musikstücken, die, einmal gehört, immer im Ohr haften bleiben – kein Wunder hat es Anatol Litvak in seine Verfilmung von Françoise Sagans Roman AIMEZ-VOUS BRAHMS? integriert. Volle orchestrale Brillanz dann im Finalsatz mit seinen strahlenden Choralpassagen, der reichhaltigen Harmonik, den einladenden Fanfaren-Klängen, den Hornrufen und den rasanten Streichertriolen und der dichten, meisterhaften Coda, in welcher am Ende das Motiv des Kopfsatzes verklärt, beruhigt und doch fragend aufleuchtet. Schicht und einfach bewegend.

(c) Kaspar Sannemann

Obwohl dieses Konzert des Lucerne Festivals mit Kartenpreisen bis Fr. 200 zu den „billigeren“ des diesjährigen Festivals gehörte, war es beileibe nicht ausverkauft. Auch für die anderen Konzerte (mit Kartenpreisen bis Fr. 320) gibt es noch freie Plätze. Das stimmt nachdenklich und besorgniserregend für die Zukunft des Klassikbetriebes.

Kaspar Sannemann, 1. September 2023


Luzern KKL
23. August 2023

Mahler Chamber Orchestra
Dirigat: Daniel Harding
Solist: Daniil Trifonov