St. Gallen: „Die Liebe zu den drei Orangen“, Sergej Prokofjew

Das ist schon ein ganz besonders stupender Kniff, den das Inszenierungsteam um Regisseurin Anna Bernreitner (Ausstattung: Manfred Rainer und Hannah Oellinger, Licht: Paul Grilj) für Prokofjews Oper anwendet, um die Ebenen der vielschichtigen Oper stringent auf die Bühne zu bringen: Sie betten die Handlung ein in ein Reality-Soap Setting, gleich der „Truman Show“ in Peter Weirs Kultfilm von 1998, wo der „Held“ 30 Jahre gefilmt wurde und nicht wusste, dass er in einer artifiziellen Blase lebte. Hier sind die Sonderlinge, die Tragischen, die Lyrischen und die Hohlköpfe Menschen in weißen Schutzanzügen (wie in einem Hochsicherheitslabor), die nach dem Streit im Prolog auf einer Galerie im Rund des Bühnenraums Platz nehmen und das Geschehen quasi von oben her steuern, aus einem künstlichen Wölkchen-Himmel.

Die für das Voranschreiten der Handlung notwenigen Requisiten (Orangen, Wasser, Sand etc.) werden mittels Holzkisten über die Bühnenmaschinerie zum Einsatzort bewegt. Wenn man genau hinschaut, merkt man, dass das Ganze ein Studio ist, mit Kulissen und Notausgängen. Den Akteuren ist das mehrheitlich nicht bewusst. Sie spielen ihre Rollen auf dieser Märchenbühne mit einem Bewegungsvokabular, das zwischen Slapstick, tuntiger Affektiertheit und aufgesetzter Tragik gekonnt changiert. Dazu kommt ein Hauch von „Men in Tights“, dieser Parodie auf Robin Hood von Mel Brooks. Die knallbunten, fantasievollen Kostüme tun ein Übriges dazu, die Sache zu einem Riesenspass zu machen – aber als Zuschauer beschleicht einen auch immer wieder ein Unwohlsein über den manipulativen Einfluss derer „von oben“. Und das ist gut so, denn immer mehr Menschen fallen in der wirklichen Welt auf solches Mediengehabe herein und nehmen Pseudo-Reality Formate als echt wahr. Nicht umsonst hat bereits in der Psychiatrie der Terminus „Truman-Syndrom“ Einzug gehalten.

© Edyta Dufaj

Das eindrückliche Engagement des gesamten Ensembles, des exzellenten Chors des Theaters St.Gallen und des Opernchors St.Gallen (fantastisch einstudiert von Filip Paluchowski) und das mit begeisternder Verve und rhythmischer Klarheit so wunderbar kommentierende Sinfonieorchester St.Gallen unter der souveränen Leitung von Modestas Pitrenas, bei dem man spürte, welche Herzensangelegenheit ihm diese Musik Prokofiews bedeutet, führten die Aufführung zu einem großen Erfolg beim leider noch nicht sehr zahlreichen Publikum. Man kann nur hoffen, dass sich das im Lauf der Vorstellungsserie noch bessern wird. Da all die zahlreichen Ausführenden auf der Bühne gleichermaßen Anteil an diesem spaßig-tiefsinnigen Ereignis hatten, seien sie in der Reihenfolge des Besetzungszettels gewürdigt:

Martin Summer verlieh dem Kreuz-König (eingekleidet wirklich wie ein König aus einem Spielkarten-Set) mit seinem bahamisch-sonor intonierenden Bass väterliche Autorität und Besorgnis um seinen „hyperchondritiotischen“ Sohn. Diesen Prinz sang Brian Michael Moore mit agilem Tenor, wirkte herzzerreißend hypochondrisch in seinem Leiden, später mutig auf der Suche nach den drei Orangen und bis über beide Ohren verliebt am Ende. Jennifer Panara war die ambitionierte, intrigante Nichte des Königs, Clarice (in einem herrlichen Kostüm), ließ ihren Mezzo effektvoll funkeln, um den Premierminister Leander für ihre Spielchen zu umgarnen: Leon Košavić gestaltete diesen mit herrlichem Bariton. Riccardo Botta war ein umtriebiger, mal lustiger, mal vor Angst die pinken Hot Pants voll habender Truffaldino. Nur schon sein Auftritt aus dem Verbandskasten heraus (schliesslich wird er als „Medizin“ gegen die Schwermut des Prinzen eingesetzt), war sehenswert. Äneas Humm verkörperte (ja, mit vollem Körpereinsatz!) den Pantalone, Günstling des Königs, mit gekonnt affektiert-tuntigem, aufgeregtem Gehabe, trippelte mit kleinen Schritten auf dem Catwalk zur Märchenburg und über die Zugbrücke, ließ die Rhythmen aus dem Graben in jede Faser seines Körpers fließen und trug mit Anmut den gelben Anzug mit den vielen bunten Blüten- und Vogelmotiven, die rote Langhaarperücke und die pinken Schuhe. 

© Edyta Dufaj

Jonas Jud war ein famoser Magier Celio (nur schon seine Farfarello-Rufe waren äußerst imposant!) und versprühte im Auftritt als Herold sektenhafte Führerqualitäten. Seine Gegenspielerin Fata Morgana war mit Libby Sokolowski bestens besetzt. Ihr praller Sopran zeichnete eindringlich (mit einem gekonnten Augenzwinkern) den abgründigen Charakter dieser Hexe. Mack Wolz sang und spielte ihre Gehilfin Smeraldina, ein Kabinettstück an derber Durchtriebenheit. Sie war daneben auch die erste (schnell verdurstende) Orange. Candy Grace Ho erging es als zweite Orange nicht besser. Nur Kali Hardwick als dritte Orange überlebte die Wüste, dank des Eingreifens der Sonderlinge. Sie entpuppte sich als bezaubernd singende Prinzessin, welche dem Prinzen auf Anhieb den Kopf zu verdrehen wusste. (Zwischendurch wurde sie allerdings in eine rosarote Ratte verzaubert, herrlich gemacht.) Den effektvollsten Auftritt des Abends hatte wohl Kristján Jóhannesson als bassgewaltige Köchin Creonta. Der überdimensionierter, eindrücklicher Reifrock, mit dem sie kaum durch die Eingangstür seines mit Leuchtschrift markierten Restaurants passte, und der riesige Kochlöffel ließen Truffaldino und den Prinzen vor Angst bibbern, doch ein blau glitzerndes Bändchen reichte aus, um die imposante, gewaltbereite Köchin abzulenken und ihr die drei Orangen zu klauen.

 Robert Virabyan als Wind-Teufel Farfarello (er treibt auch die Drehbühne mit der Burg an und sorgt so für den schnellen Wechsel der Schauplätze im dritten Akt) und Barna Kovács als Zeremonienmeister ergänzten das umwerfende Ensemble aufs Allerbeste. Am Ende finden die meisten Akteure den Notausgang und verschwinden aus diesem – eigentlich menschenverachtenden „Labor“, nur der König und Pantalone verpassen den Abgang und bleiben miteinander im Märchenland zurück.

Ein Riesenspass für die gesamte Familie (es wird deutsch gesungen), und wer genau hinschaut, wird durchaus Tiefsinniges und Bedenkenswertes in der Inszenierung entdecken. Musikalisch (Orchester, Chor und Sänger) – man möge mir den Ausdruck verzeihen – ist das alles ebenfalls verdammt gut gemacht. Ein dickes Lob gebührt der Maskenabteilung des Theaters St.Gallen; sie schaffen wahre Kunstwerke aus den Gesichtern der Mitwirkenden!

Kaspar Sannemann, 27. September 2024


Die Liebe zu den drei Orangen
Sergej Prokofjew

Theater Sankt Gallen

21. September 2024

Regie: Anna Bernreitner
Musikalische Leitung: Modestas Pitrenas
Sinfonieorchester St. Gallen