Mönchengladbach: „Eugen Onegin“, Peter Iljitsch Tschaikowsky

Als sich Tschaikowsky um 1878 entschloss, Alexander Puschkins 1833 erschienenen Versroman Eugen Onegin als Oper zu vertonen, begegneten ihm viele Zeitgenossen mit großem Misstrauen. Das von vielen Russen und Russinnen als literarisches Meisterwerk verehrte Werk erschien nicht nur zu umfangreich und komplex, sondern war auch eine Art modernes russisches Nationalepos. Doch schon die ersten Aufführungen waren ein großer Erfolg, und so gehört Tschaikowskys Oper heute zu den Standardwerken sowohl auf russischen als auch auf internationalen Bühnen. Ein Grund für den Erfolg war sicherlich, dass Tschaikowsky die Oper in Anlehnung an die Vorlage als „lyrische Szenen“ konzipierte, in denen er sich einfühlsam auf die Hauptfiguren der Oper konzentrierte. Er wollte eine Oper über die inneren Vorgänge und Beweggründe „echter Menschen“ schreiben, deren Gefühle er selbst nachvollziehen konnte. Und in der Tat scheint kaum eine andere Oper so eng mit der Gefühlswelt des Komponisten verbunden zu sein wie Eugen Onegin. Fast zeitgleich mit der Entstehung dieser Oper heiratete der homosexuelle Tschaikowsky Antonina Miljukowa, auch um seine Familie vor öffentlichem Gerede zu schützen. Auslöser waren Liebesbriefe der jungen Frau an den russischen Komponisten, in denen sie ihm ihre leidenschaftliche Liebe gestand. Offenbar wollte Tschaikowsky kein Onegin sein, und so willigte er nach reiflicher Überlegung in die Heirat ein, auch wenn seine Gefühle für seine zukünftige Frau weniger aus Liebe als aus Pflichtgefühl zu entspringen schienen. Er wollte nicht für ihr Unglück verantwortlich sein und es einfach „besser“ machen als die Titelfigur der Oper.

© Matthias Stutte

In ihrer fünften Inszenierung am Niederrheinischen Gemeinschaftstheater konzentriert sich Helen Malkowsky entsprechend der Entstehungsgeschichte des Stückes auf die Gefühlswelt der einzelnen Figuren. Das beginnt gleich zu Beginn des Abends. Das erste Bild ist eine Trauerfeier für den kürzlich verstorbenen Larin, den Mann der Gutsbesitzerin Larina. Die Dorfgemeinschaft besucht die trauernde Witwe und ihre beiden Töchter Olga und Tatjana, während auf dem Tisch ein Bild des verstorbenen Mannes mit Trauerflor den Blick auf sich zieht. Unter den Trauergästen befinden sich auch Olgas Verlobter Wladimir Lenski und dessen Freund Eugen Onegin. Die Amme Filipjewna, hier vielleicht eher eine Art Haushälterin, erinnert sich mit Larina an bessere Zeiten in der Vergangenheit. Eindrucksvoll inszeniert Malkowsky auch das zweite Bild. Von ihren Gefühlen für Onegin aufgewühlt, reißt Tatjana immer wieder Papier von den Wänden, um ihre Gedanken darauf festzuhalten und in Briefform zu bringen. Mit diesem Papier sind die Fenster des etwas heruntergekommenen Gutshauses beklebt, ein sehenswertes Bühnenbild von Tatjana Ivschina. Sehr eindrucksvoll sind im dritten Bild einige Fensterscheiben, die aus dem Schnürboden herabgelassen werden. Regentropfen werden durch technisch hochwertige Videoprojektionen darauf abgebildet. Während Tatjana auf Onegins Antwort auf ihren Brief wartet, malt sie mit dem Finger Herzen auf die beschlagenen Fensterscheiben. Diese Regenstimmung passt auch zu Onegins kühler Zurückweisung, die Tatjanas Seele tief verletzt. Auch an ihrem Namenstag im vierten Bild scheint Tatjana von innerer Zufriedenheit weit entfernt zu sein. Das Fest wird von übermäßigem Alkoholkonsum beherrscht, und vor allem Lenski trinkt nach Onegins Flirtversuchen mit Olga viel zu viel Wodka, was ihn jegliche Kontrolle über seine Sinne kostet. Völlig betrunken fordert er Onegin schließlich zum Duell heraus, eine durchaus geschickte Erklärung für diese Überreaktion auf einen in dieser Inszenierung recht harmlosen Tanz zwischen Onegin und Olga.

© Matthias Stutte

Im Duell nach der Pause erschießt Onegin seinen alten Freund, als sich im Kampf zwischen ihm und Lenskis Sekundanten ein Schuss löst. Zuvor hatte Lenski bereits seine Waffe niedergelegt und wartete mit ausgestreckten Armen auf den tödlichen Schuss. Ein effektvolles Bild, das Lenskis Todessehnsucht leider nicht ganz erklärt. Aber dies ist auch die einzige kleine Ungereimtheit des ganzen Abends. Absolut gelungen ist der Übergang vom fünften zum sechsten Bild. Während die Dorfgemeinschaft zu Lenskis Beerdigung erscheint und Onegin aus dem Dorf flieht, irrt er im Folgenden verloren durch die Menschen, bis er schließlich einige Jahre später in St. Petersburg auf Tatjana trifft, die inzwischen mit dem Fürsten Gremin verheiratet ist. Aus dem Orchestergraben erklingt während des gesamten Geschehens bereits die festliche Musik des bevorstehenden Festes. Von dort aus leitet Giovanni Conti die Niederrheinischen Sinfoniker mit viel Temperament durch die besuchte Aufführung. Bravo an dieser Stelle für das gesamte Orchester. Am Ende des Abends steht Onegin allein auf der großen Bühne, nachdem Tatjana ihm klar gemacht hat, dass sie ihrem Mann treu bleiben wird.

Die Titelfigur wird von Rafael Bruck schauspielerisch stark verkörpert. Zu Beginn noch ein selbstbewusster Lebemann, gerät sein Leben im Laufe des Abends immer mehr aus den Fugen. Auch das Aufflammen seiner Liebe zu Tatjana wirkt wie ein verzweifelter Versuch, an alte und zugleich bessere Zeiten anzuknüpfen. Sein Bariton harmoniert dabei wunderbar mit dem klaren Sopran von Sofia Poulopoulou, die als Tatjana ebenso überzeugt. Als glücklicher Zufall erweist sich, dass diese Oper fast zeitgleich auch an der Deutschen Oper am Rhein aufgeführt wird. So konnte wegen einer kurzfristigen Erkrankung von Eva Maria Günschmann die dortige Gutsherrin Larina „ausgeliehen“ werden. Katarzyna Kuncio hat sich in kürzester Zeit auch darstellerisch gut in die Produktion eingefunden, stimmlich ergänzt sie mit ihrem schönen Mezzosopran das hauseigene Ensemble ebenfalls sehr gut. In den weiteren Rollen überzeugen Kejti Karaj als Olga, Woongyi Lee als Wladimir Lenski, Satik Tumyan als Filipjewna und Hayk Deinyan als Fürst Gremin. Der belgische Tenor Arthur Meunier, Mitglied des Opernstudios Niederrhein, steuert als Triquet ein französisches Ständchen zu Tatjanas Geburtstag bei. Auch der Opernchor unter der Leitung von Michael Preiser zeigt sich einmal mehr gut einstudiert.

© Matthias Stutte

Nachdem Eugen Onegin zum Ende der vergangenen Spielzeit in Mönchengladbach Premiere feierte und dort nun zu Beginn der Spielzeit 2024/25 für drei Vorstellungen wieder aufgenommen wurde, steht am 16. November die Übernahmepremiere in Krefeld auf dem Programm. Ein wunderbarer Opernabend, der sowohl musikalisch als auch szenisch überzeugt.

Markus Lamers, 3. Oktober 2024


Eugen Onegin
Oper
von Peter Iljitsch Tschaikowsky

Theater Mönchengladbach

Premiere: 9. Juni 2024
besuchte Vorstellung: 29. September 2024

Inszenierung: Helen Malkowsky
Musikalische Leitung: Giovanni Conti
Niederrheinische Sinfoniker

Trailer

Weitere Aufführung in Mönchengladbach: 10. Oktober

Aufführungen in Krefeld: 16. November (Premiere), 20. November, 5. Dezember, 14. Dezember, 29. Dezember, 10. Januar, 4. Februar, 14. Februar