Flensburg: „Dornröschen“, Pjotr Iljitsch Tschaikowsky

© Henrik Matzen

Der überraschende Star des Abends dieser Premiere des neuesten Musiktheaterstücks von Choreograph Emil Wedervang Bruland ist das Schleswig-Holsteinische Sinfonieorchester unter der souveränen Leitung des katalanischen Dirigenten Sergi Roca Bru. Musikalisch wird alles aufgefahren, was Tschaikowskys durch lyrische Melodik und reiche Harmonien geprägte Partitur benötigt, um zu begeistern. Von melodischer Schönheit über farbenprächtige Opulenz bis hin zu den charakteristischen Tanzsätzen dieses 1890 im St. Petersburger Mariinski-Theater uraufgeführten Meisterwerkes lotet der 1. Kapellmeister des Schleswig-Holsteinischen Landestheaters jede Nuance aus und die Musiker im Graben folgen ihm konzentriert.

Am Landestheater ist das Stück auf 130 Minuten inklusive Pause gekürzt worden und natürlich kann das recht kleine Tanztheater-Ensemble der akustischen Opulenz nicht durch eine große Menge an Menschen auf der Bühne entgegentreten. Stattdessen setzt Bruland auf eine eigene Interpretation des klassischen Märchenstoffes, der im Wesentlichen dennoch der bekannten Vorlage folgt. Musikalisch sind dabei auch die bekanntesten der unzähligen Variationen und Charaktertänze erhalten geblieben, aber wurden in die Handlung integriert und die Darstellung den Protagonisten auf den Leib choreografiert. Bruland und die Dramaturgin Susanne von Tobien erzählen die Geschichte als Suche nach selbstbestimmter Freiheit und Identität, aber auch als Finden der eigenen Kraft und Liebe, verrät ein Blick in den Programmzettel.

© Henrik Matzen

Dabei gibt es schon beim Tauffest so viele Details zu sehen, dass man gar nicht alle Aktionen auf einmal wahrnehmen kann und sich idealerweise ein zweites Mal die Zeit nimmt, eine der Aufführungen zu besuchen. Wie dem Baby Aurora im Kinderwagen die Windel gewechselt wird und angewidert von einem Gast zum nächsten weitergereicht wird, sorgt nicht nur für Lacher im Publikum sondern stellt auch die unmittelbare Verbindung vom phantastischen Märchen mit dem heutigen Alltag der Menschen her. Statt der traditionellen Verletzung an der Spindel, sticht Aurora sich später an einer Spritze, mit der Carabosse sie überwältigt und schließlich in eine Art Trance versetzt. Projektionen in einer Art Bilderrahmen auf der hinteren Begrenzung der Szenenfläche visualisieren dabei die durch die Spritze hervorgerufene Blutung (oder den Eintritt der Droge in den Blutkreislauf der Prinzessin?) und die psychedelische Wirkung der verabreichten Substanz. In dieser von Carabosse gelenkten Traumsequenz reflektiert Aurora Gewesenes, begreift Geschehenes und durchlebt ihre Sehnsüchte. Schließlich begreift die Protagonistin, dass nur sie selbst sich befreien kann und entreißt ihrem Peiniger die Spritze, um ihn schließlich damit zu eliminieren und doch noch mit Prinz Desiré das gemeinsame Glück zu finden. Bruland gelingt es, eine ästhetische eigene Körpersprache für seine Company zu kreieren, aber begegnet auch der originalen, für eine Besetzung von 155 Tänzerinnen und Tänzern geschaffenen Choreografie von Marius Petipa durch vereinzelte Zitate mit Respekt. Herausgekommen ist eine wirklich gelungene Symbiose aus Tradition und modernem Tanztheater, welches am Landestheater ganz ohne Tutus und Spitzenschuhe auskommt. Die farbenfrohen zeitgenössischen Kostüme und die Bühne, die im Wesentlichen an filigrane Scherenschnittmuster erinnert, stammen von Stephan Anton Testi.

© Henrik Matzen

Tänzerisch glänzen in der Premiere vor allem die wandlungsfähige Yi-Han Hsiao als Prinzessin Aurora und Yun-Cheng Lin als deutlich aufgewerteter und teils sadistisch wirkender Bösewicht Carabosse. Chu-En Chiu vermag durch seine sensible Gestaltung dem Prinzen Désiré Profil zu geben. Risa Tero gibt als elegante Fliederfee die Gegenspielerin Carabosses. Das Gespann der guten Feen vervollständigen der charismatische Ben Silas Beppler als Blaue Fee, die bezaubernde Perla Gallo als Rote Fee und William Gustavo De Barros mit seiner schelmischen Art als Grüne Fee. Die drei letztgenannten werden im Dezember als Carabosse, Aurora und Désiré zu sehen sein, was erneut zu spannenden Momenten und gänzlich anderen Eindrücken auf der Bühne führen dürfte. Komplettiert wird das frisch und präzise tanzende, mit reichlich Ausdruckskraft agierende Flensburger Ensemble durch Gijs Machiel Stenger als Böse Fee, Laura Elizalde Garcia als Bösere Fee, Meng-Ting Wu als Böseste Fee und Lou Thabart als König, sowie Carolina Martins de Oliveira als Königin.

Am Ende gibt es tosenden Applaus und Standing Ovations für alle Beteiligten.

Marc Rohde, 4. November 2024


Dornröschen
Pjiotr Iljitsch Tschaikowsky

Flensburg
Schleswig-Holsteinisches Landestheater

Premiere am 2. November 2024

Choreografie: Emil Wedervang Bruland
Musikalische Leitung: Sergi Roca Bru
Schleswig-Holsteinisches Sinfonieorchester