Un ballo in maschera
Auch heuer hat das Giuseppe Verdi in seiner engeren Heimat gewidmete, von Parma ausgehende Festival eine Produktion für das kleine Haus mit seinen 307 Plätzen erarbeitet. Dirigent Fabio Biondi, eigentlich Barockspezialist, hatte eine für die Dimensionen des Hauses geeignete, ausgezeichnete Reduzierung des Orchesters erstellt und realisierte mit dem enthusiastisch mitgehenden Orchestra Giovanile Italiana (=Jugendorchester) eine spannende Wiedergabe.
Jung waren auch die Interpreten der schwierigen Rollen, wobei Davide Tuscano als Riccardo eine veritable Entdeckung war. Nicht nur eine geschmeidige, höhensicherer Tenorstimme von beeindruckender Schönheit und Glanz, sondern auch Phrasierung und Beherrschung der Ausdrucksskala ergänzten, zusammen mit lebhaftem Spiel, ein perfektes Rollenporträt. Natürlich ist zu bedenken, dass diese stimmliche Leistung in einem sehr kleinen Theater geboten wurde, und für größere Häuser scheinen mir für den knapp Dreißigjährigen aus Reggio Calabria derzeit Rollen von Donizetti (etwa Edgardo oder Devereux) oder Massenet (Des Grieux) ratsam. Man muss Tuscano jedenfalls im Auge behalten. Neugierig war ich auch auf den Renato von Lodovico Filippo Ravizza, der mir mit kleineren Rollen beim vorjährigen Festival Donizetti in Bergamo und im Sommer als Ping beim MOF in Macerata aufgefallen war. Auch seine stimmlichen und musikalischen Gaben sind hochinteressant. Für ihn gilt selbstverständlich das bei Tuscano Gesagte ebenso, nämlich die Empfehlung für einen langsamen Karriereaufbau mit sorgfältiger Rollenwahl. Die Dritte im Bunde der vielversprechenden Interpreten war die Koreanerin Danbi Lee, die in ausgezeichneter Maske eine hervorragende Ulrica mit echten orgelnden Alttönen sang. Sauber gesungen und mit unbefangenem Auftreten war Licia Piermatteo ein netter Oscar (allerdings brachte sie an ihrem „Saper vorrete“ im letzten Bild unnötigerweise zusätzliche Verzierungen an; auch sie ist erst 28 Jahre alt. Weniger überzeugend die Amelia der 26-jährigen Caterina Marchesini, die larmoyant klang und auch szenisch zu behäbig war. Überzeugend Agostino Subacchi und Lorenzo Barbieri als Verschwörer Samuel und Tom, die ihren Rollen starkes Profil verliehen. Frisch der Silvano von Giuseppe Todisco. Als Richter bzw. Diener Amelias ergänzte Francesco Congiu. Hochbefriedigend wie immer der Chor des Teatro Regio Parma unter Martino Faggiani.
In der stimmungsvollen Beleuchtung von Gianni Bertoli passte sich die Regie von Daniele Menghini im grundsätzlichen Einheitsbühnenbild von Davide Signorini der reduzierten Bühnengröße an. Versatzstücke charakterisierten die einzelnen Bilder, die mit Fortschritt der Handlung immer bedrückender wurden, ob das nun Fledermäuse oder aufgehäufte Totenschädel waren. Die phantasievollen Kostüme (Nika Campisi)changierten zwischen 18. Jahrhundert und zeitgenössisch. Da sich dem Regiekonzept gemäß Riccardo und sein Hof ständig verkleideten, traten beim titelgebenden Maskenball Riccardo in Frauenkleidern und Amelia als in ein Wams gehüllter Mann auf. Die Idee ist an sich akzeptabel, doch wirkte sich Riccardos Kostümierung in seiner Todesszene auf Empathie und Mitleid hemmend aus. Menghini folgte allerdings einem in den letzten Jahren häufig auftretendem Konzept, das Riccardo als einen Libertin sieht, der nur Vergnügungen im Kopf hat, was zu der leidenschaftlich liebenden Figur nicht recht passen will. Unverständlich war auch, dass im Galgenbild Riccardo Amelia und sich selbst weiße Farbe ins Gesicht schmiert
Trotz dieser Einwände ein heftig bejubelter, musikalisch exzellenter und atmosphärisch dichter Nachmittag. E.P.
Konzert Arnold Schönberg, Luigi Nono, Giuseppe Verdi
Das Festival hat unter dem Titel Ramificazioni (=Verästelungen) eine neue Schiene eingerichtet, Verdis Schaffen und seinen befruchtenden Einfluss auf andere Komponisten illustriert. So gab es am Abend desselben Tages im Auditorium Paganini, dem faszinierenden Umbaueiner von 1899 bis 1968 aktiven Zuckerfabrik (Architekt der berühmte Renzo Piano), ein hochinteressantes Konzert. Zu hören waren Werke zweier großer Komponisten des 20. Jahrhunderts, deren 150. bzw. 100. Geburtstag es heuer zu feiern gilt: Arnold Schönberg und Luigi Nono. Von Ersterem „Ein Überlebender aus Warschau“ op. 46, von Letzterem „Il canto sospeso“. Maxime Pascal, Spezialist für moderne Werke, leitete die Filarmonica Arturo Toscanini, Schönbergs Text wurde von Christopher Lemmings anstelle des angekündigten Thomas Allen rezitiert, Nono wurde von Chantal Santon Jeffery (Sopran), Katarzyna Otczyk (Mezzo) und Raffaele Feo (Tenor) interpretiert.
Nach der Pause folgten aus Giuseppe Verdis „Quattro pezzi sacri“ das „Stabat mater“ und „Te Deum“ (Solistin in diesem der Sopran Daniela Zerbinati). Dies war der große Moment des auch vorher zum Einsatz gekommenen Coro del Teatro Regio di Parma, der in der Einstudierung des nicht genug zu lobenden Martino Faggiani wieder einmal prachtvoll sang.
Schönbergs Werk ist bereits zum Klassiker geworden, mit Nonos serieller Komposition tat ich mich trotz verwandter Thematik (sie vertont die Briefe zum Tode verurteilter Mitglieder der europäischen Résistance) trotz überzeugender Interpretation schwer. Und was Verdi betrifft: In diesen seinen letzten Werken zeigte sich einmal mehr, was ein ganz Großer ist.
Ein interessanter Abend, der in dem akustisch ausgezeichneten Saal mit viel Applaus bedacht wurde. E.P.
Recital Amartuvshin Enkhabat
Dieses wunderschöne kleine Haus mit 430 Plätzen trägt den Namen von Girolamo Magnani, dem von Verdi bevorzugten Bühnenbilder, der 1848 in seiner Heimatstadt maßgeblich an der Errichtung des Theaters beteiligt war, und von dem auch das Deckenfresko stammt.
Für Stimmliebhaber war dieser Giuseppe Verdi gewidmete Nachmittag der reine Genuss im nicht ausverkauften Haus (und das in einer rund 28 km von Parma entfernten Stadt – es waren allerdings keine Hinweise auf das Recital zu sehen). Am Klavier bestens von Stefano Salvatori begleitet (der auch eine „Romanza senza parole“ aus 1845 und das „Aida“-Vorspiel beisteuerte), sang der mongolische Bariton die zwischen 1838 und 1845 entstandenen „Sei romanze“ und beeindruckte sofort mit seiner Stimmfülle und seinem wunderbar weichen Timbre. Diese Jugendwerke des Komponisten haben einen Stil, der sofort den Unterschied zwischen Liedern und Romanzen klarmacht.
Nach der Pause legte Enkhbat richtig los und sang Sacra è la scelta („Luisa Miller“), O vecchio cor che batti („I due Foscari“), Di provenza il mar il sol („Traviata“), Dio di Giuda samt Cabaletta („Nabucco“), Il balen del suo sorriso („Trovatore“), Urna fatale („Forza del destino“). Der Applaus war so riesig, dass das Haus dreimal so groß und ausverkauft wirkte, was Enkhbat zu drei Zugaben veranlasste, nämlich Cortigani („Rigoletto“), „Dei verd’anni miei“ („Ernani“) und Pietà, rispetto, amore („Macbeth“). Am Ende hatte er mit den Arien gute 60 Minuten bestritten! In perfekter Schönheit, mit fabelhafter Diktion und nuancierter Phrasierung. Seit den Glanzjahren von Ettore Bastianini habe ich keine so schöne, bruchlose Baritonstimme mehr gehört.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so klatschen sie noch heute… E.P.
Macbeth
Im Haupthaus wurde die französische, 1865 uraufgeführte, Fassung dieser ersten von Verdis auf Shakespeare fußenden Opern gezeigt. Im Gegensatz zu „Trovatore“ und „Otello“ weist das Werk beträchtliche Unterschiede zu der 1847 in Florenz erstmals gegebenen Fassung auf. Die bedeutendsten sind die Hinzufügung von „La luce langue“ der Lady im 2. Akt und die Änderung des Schlusses, denn der Titelheld stirbt nun nicht mehr sichtbar auf der Bühne, stattdessen ertönt ein flotter Siegeschor. Der Wegfall von „Vil corona, e sol per te“ ist sehr bedauerlich (manche Produktionen behelfen sich bei der Realisierung der Fassung mit dem ins Italienische rückübersetzten Text damit, dass sie sich für den originalen Schluss entscheiden). Außerdem kam für Paris natürlich auch ein Ballett dazu.
Roberto Abbado hatte schon 2020 während der Pandemie diese Version unter freiem Himmel im Parco Ducale geleitet. Sie liegt ihm offenbar sehr am Herzen, was sein tiefgehend die Gefühle der Protagonisten sezierendes Dirigat bewies, das von der Filarmonica Arturo Toscanini mit brillantem, intensivem Spiel umgesetzt wurde. Der Chor des Hauses unter Martino Faggiani ließ in all seinen Szenen, aber speziell beim Auftritt zu Beginn des 4. Akts seinen Glanz und seine Geschmeidigkeit bewundern.
Ernesto Petti sang erstmals in seiner Karriere die Titelrolle. Der zunächst als Tenor ausgebildete Sänger verfügt über einen wohltimbrierten, ausladenden Bariton, bei dem leider in der Vergangenheit immer wieder ein Hang zum – unnötigen – Forcieren festzustellen war. Offenbar unter Abbados Einfluss zügelte er sich zunächst, aber dann gab er der Versuchung doch nach, was ein recht undifferenziertes Porträt des von der Lady zur Machtergreifung fast gezwungenen Usurpators ergab. Diese wurde von Lidia Fridman mit schauspielerischem Aplomb auf eine Art interpretiert, deren Faszination man sich nicht entziehen konnte. Ihr Sopran mit dem interessanten, nicht immer makellos „schönem“ Timbre passt hervorragend zu der Rolle. Ihr technisches Rüstzeug hat die junge Russin bestens im Griff und bewältigte auch furchtlos den Schluss der Nachtwandelszene. Luciano Ganci ließ als Macduff seinen wunderschönen Tenor vor allem in seiner ergreifenden großen Arie glänzen, während Riccardo Fassi ein guter, aber kein außergewöhnlicher Banco war. David Astorga, schon vor vier Jahren Malcolm, hat seither keine stimmlichen Fortschritte gemacht und tat sich schwer, Chor und Partner zu übertönen. Die mitfühlende Dama (hier La Comtesse) der Natalia Gavrilan erfreute auch mit ihrem ausgezeichneten Beitrag zu den Ensembles. Als Arzt ergänzte Rocco Cavalluzzi.
Sehr erfreulich war die Regie des in Parma debütierenden Pierre Audi im Bühnenbild von Michele Taborelli ausgefallen (die passenden Kostüme, historischen nachempfunden, stammten von Robby Duiveman). In einfacher, zeitweise auf Verstrebungen zurückgreifender, Szenerie (zunächst nur kurz die sattsam bekannte Spiegelung des Zuschauerraums) machten einige Einfälle wie die in Leichentücher gehüllten Mitglieder von Macduffs Familie oder die bei den Erscheinungen im Halbkreis nach ihrer Größe gestaffelten Kinder starken Eindruck. Überhaupt war die Szene der Erscheinungen sehr geschickt gelöst und ließ den Zuschauer Macbeths Grauen nachvollziehen. Dies gilt auch für die schnörkellose Choreographie von Pim Veulings, der es gelang, dass Ballett nicht als aufgepfropft, sondern als bruchlosen Teil der Handlung erscheinen zu lassen. Der Brief Macbeths an seine Frau wurde von Macbeth selbst vorgelesen, wobei sich die Lippen der Lady im Gleichklang bewegten, als ob sie ihn gleichsam auswendig könnte und die Worte des Gatten in ihr nachhallten. Großen Anteil an der starken Gesamtwirkung hatte auch die Beleuchtung von Jean Kalman und Marco Filibeck.
Nach diesem mitreißenden Nachmittag freute ich mich auf das Wochenende danach, wo ich am 19. im Teatro Regio das „Requiem“ hören sollte und nach der Umsiedlung ins antike Teatro Farnese im Rahmen der erwähnten Ramificazioni Madrigale von Monteverdi (400 Jahre sind seit der Entstehung von „Il combattimento di Tancredi e Clorinda“ vergangen) bis Nono und am 20. „La battaglia di Legnano“. Leider hinderte mich ein Unfall an einer neuerlichen Reise nach Parma, sodass mein Bericht leider unvollständig bleiben muss.
Eva Pleus, 5. November 2024
Parma: „Festival VERDI“
Un ballo in maschera
Giuseppe Verdi
Teatro Verdi Busseto
5. Oktober 2024
Inszenierung: Daniele Menghini
Musikalische Leitung: Fabio Biondi
Orchestra Giovanile Italiana
Konzert
Arnold Schönberg, Luigi Nono, Giuseppe Verdi
Auditorium Paganini
5. Oktober 2024
Christopher Lemmings
Filarmonica Arturo Toscanini,
Recital Amartuvshin Enkhabat
Teatro Magnani di Fidenza
6. Oktober 2024
Klavier: Stefano Salvatori
Macbeth
Giuseppe Verdi
Teatro Regio di Parma
13. Oktober 2024
Inszenierung: Pierre Audi
Musikalische Leitung: Roberto Abbado
Filarmonica Arturo Toscanini