Statt wie bei Aldi, Edeka und Co. Lebkuchen schon im August zu präsentieren, passt der Zeitpunkt für David Woods Kinderklassiker „Der Lebkuchenmann“ weit besser. Uraufgeführt 1976 als „The Gingerbread Man“, gehört er nicht nur in England zu den Favoriten der Vorweihnachtszeit. Ein Blick auf die Spielpläne hierzulande zeigt die große Beliebtheit dieses Familienstücks. Ist es ein Märchen, ein Musical, ein Schauspiel? Es ist wohl die geglückte Mischung aus allen Dreien, die je nach Regie und Musikintention für Vergnügen und Spannung sorgt und dabei noch nachhaltige Botschaften sendet.
Regisseur Brian Bell und Fridtjof Matti Bundel, musikalische Bearbeitung, schufen in Meiningen eine Version des „Lebkuchenmanns“, die sich witzig und einfühlsam in die Herzen und Köpfe der kleinen und großen Zuschauer spielt. Jede Figur hat ihr charaktertypisches Eigenleben, ihre Marotten und einen maßgeschneiderten Sound und Song. Die offensichtliche Spielfreude der Küchenbewohner wirkt einfach ansteckend, wenn sie mit Tempo und Schwung in einer auf den Punkt gebrachten Choreografie über die Bühne springen und tanzen. Die Kostüme sind mit originellen Details versehen, die erst auf den zweiten und dritten Blick offenbar werden. Musik und Geräusche sind wohldosiert und keine Permanentbeschallung, sondern szenentypisch pointiert mit verschiedenen Klangelementen. Die Lieder animieren zum Mitmachen, zum Klatschen, zum Mitsingen. Zum Piepen, wer da alles zum Kuckuck mutiert.
Die Hausbewohner scheinen ein Faible für Rot zu haben, die ganze Küche leuchtet und strahlt gleich heimelige Wärme aus. Eine grotesk überdimensionierte Backform, eine riesige Teetasse und ein gewaltiges Nudelholz irritieren zunächst, machen aber schnell klar: Man betrachtet hier den Raum aus der Perspektive der Kleinen. Es geht auf Mitternacht zu, und es regt sich etwas. Der Salzstreuer Herr Salz, und die Pfeffermühle Frau Pfeffer, halten einen nächtlichen Schwatz. Sie trägt natürlich Schwarz, ist elegant, leicht affektiert und klagt über Langeweile. Evelyn Fuchs, grell und mondän geschminkt, verleiht diesem Küchenutensil Profil und Haltung. Max Rehberg als Salz steckt in einem weißen ballonartigen Gebilde, wirkt unaufgeregt jovial und pflegt Dialekt und Sprüche. Frau Pfeffer möchte noch etwas mehr in ihrem öden Dasein erleben, möglichst etwas Aufregendes und große Gefühle. Das kann sie haben: Als Herr von Kuckuck, ein sichtlich gealterter und fett gewordener Vogel zur vollen Stunde rufen will, bleibt ihm die Stimme weg. Erik Studte spielt diesen schon etwas tappeligen Herrn, der im Schwyzerdütsch palavert und einen gewaltigen Kugelbauch vor sich herschiebt, sehr liebenswert. Man muss ihm einfach helfen. Denn die Gefahr, dass die „Großen“ die kaputte Kuckucksuhr auf den Müll schmeißen, droht.
Aber Rico Strempel, als frischgebackener Lebkuchenmann, avanciert zum Retter. Sein Profilsong motiviert und mutig steigt er ins oberste Regal, um etwas Honig zu klauen. Dort oben wohnt der fiese Teebeutel, der alle hasst. Die Ballade von diesem alten Griesgram spricht Bände. Jennifer-Julia Caron zeigt Persönlichkeit. Eisern verteidigt sie ihr Revier und duldet keinen Eindringling. Sie ist verbittert, man hat sie da oben einfach vergessen, obwohl doch so viel in ihr steckt. Deshalb hütet sie ihre Kräuterschätze und den Honig. Trotzdem gelingt die Aktion. Doch da erscheint Schleck, der Gangstermäuserich, lang beschwänzt im weiß-roten Outfit, bereit, alles und jeden zu töten, der ihm das Futter streitig macht. Johannes Schönberg mimt in infernalischer Geschmeidigkeit und furchterregender Mimik dieses Viech, das sein Vorbild wohl in Rum Tum Tugger aus „Cats“ sah – die Musik verrät es. Sie hat wohl die Großen geweckt, die sofort Gift streuen. Fatalerweise bekommt der Kuckuck das ab und wird schwer krank. Weil der alte Teebeutel ein Heilkundiger ist, könnte er helfen. Tatsächlich gelingt es dem Lebkuchenmann, ihn dazu zu bewegen. Endlich hat er eine Aufgabe und man schätzt ihn. Nur Schleck bleibt hyperaggressiv, wird aber mit einer List in sein Mauseloch gesperrt. Eigentlich müsste nun alles gut werden, Herr von Kuckuck kann wieder rufen, doch da erfährt der junge Retter, dass er vermutlich bald aufgegessen wird. Als die Großen am nächsten Morgen eine intakte Uhr vernehmen, geschieht ihr nichts und auch das Weihnachtsgebäck bleibt verschont, denn es könnte ja Mäusegift abbekommen haben und darf als Deko ins Regal.
Mit rasanten Songs und Partystimmung endet dieses sinnige Märchen, das weit mehr als bloße Unterhaltung ist, denn es transportiert so wertvolle Botschaften. Der Lebkuchenmann hat das Zeug zum Helden, doch Einzelkämpfer haben es schwer. Erst gemeinsam mit seinen Freunden entwickelt er Stärke und Mut. Was Isolation und Einsamkeit mit einem anstellen kann, zeigt der alte Teebeutel. Vorurteile sind oft gänzlich falsch und tun Unrecht und Mäuserich Schleck ist seinem schlechten Ruf verpflichtet, obwohl er doch innerlich ganz anders ist. Jeder hat etwas Liebenswertes und möchte dazugehören.
Die „Großen“, eine Frau und ein Mann – man hört nur die Stimmen der Hausbewohner – kommen nicht so gut weg. Da ist eine kaputte Uhr gleich ein Fall für den Müll und typisch für unsere Wegwerfgesellschaft. Saust eine Maus durchs Haus, bedeutet das das Todesurteil und schnell ist Gift zur Hand. Eigentlich hätte die Geschichte schon hier zu Ende sein können, wären da nicht märchenhafte Dinge geschehen.
Vielleicht bringt nun einer doch das Mäusegift zum Sondermüll und den verstummten Thermomix zur „Reparaturinitiative“ – sowas gibt es! Eltern sollten sich nach dieser Vorstellung nicht wundern, wenn Kinder jetzt nichts mehr wegwerfen wollen, ein Herz für Mäuse haben und neuerdings ein besonderes Interesse für die hintersten Winkel der Küchenregale entwickeln.
Übrigens geht das Meininger Theater mit gutem Beispiel voran: Bühnenbild und Kostüme sind Second Hand, ergattert vom Staatstheater Saarbrücken.
Noch bis Januar ist dieses zauberhafte Kinderstück zu sehen und zu hören.
Inge Kutsche, 12. November 2024
Der Lebkuchenmann
David Wood
Staatstheater Meiningen
Premiere am 9. November 2024
Regie: Brian Bell
Musikalische Leitung: Fridtjof Matti Bundel
Weitere Vorstellungen: 17., 18., 19., 20., 22. November, 7., 9., 10., 11., 13., 25., 27. Dezember 2024, 19. und 20. Januar 2025