Lieber Opernfreund-Freund,
gerade in der Vorweihnachtszeit kommt kaum ein Haus ohne DIE Märchenoper schlechthin aus: an nicht weniger als 40 deutschen Theatern kann man in diesem Winter Aufführungen von Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel sehen. Dagegen fast völlig vernachlässigt scheint seine zweite große Märchenoper Königskinder. Die Plattform operabase verzeichnet lediglich drei Produktionen in den letzten zehn Jahren. Eine vierte fügt nun das Theater Münster hinzu, der nach den traditionell als Märchen ausgerichteten Regiearbeit in Gelsenkirchen und der psychologisierten Lesart von David Bösch 2015 in Frankfurt eine ausgezeichnete Gratwanderung zwischen beiden Ansätzen gelingt.
Dass die 1910 an der New Yorker MET uraufgeführten Königskinder nicht öfter auf dem Spielplan stehen, ist eigentlich verwunderlich. Bietet doch ihr Sujet weit mehr Ansätze einer aktualisierten Deutung als der scherenschnittartige Märchenstoff von Hänsel und Gretel. Ein Paar aus vermeintlich ungleichen sozialen Schichten kämpft um seine Liebe und wird von der Gesellschaft ausgegrenzt, weil sie nicht dem entsprechen, was man von ihnen erwartet. Eine Gänsemagd (die eigentlich selbst Königstochter ist und von einer Hexe gefangen gehalten wird) und ein Königssohn, der ausgebüxt ist, um die echte Welt kennenzulernen und sich sogar als Schweinehirt verdingt, verlieben sich. Das entspricht natürlich nicht dem Prunk und Protz, den sich die Bewohner von Hellabrunn vom künftigen Königspaar erwarten. Sie vertreiben die beiden, die fortan durch die Welt irren und schließlich im verschneiten Zauberwald, dem Ort ihres Kennenlernens, erfrieren.
Regisseurin Clara Kalus und ihr Team entführen die Zuschauer zu Beginn in einen idyllischen Märchenwald samt Brunnen und Hexenhaus. Den zweiten Akt verlegt sie in eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, die 30er Jahre zwischen den beiden Weltkriegen. Hier läuft Kostümbildnerin Carola Volles zu Höchstform auf und zeichnet eine Schar von Individuen in variantenreichen Kostümen aus der Zeit. Die Dorfgemeinschaft hat sich zum gemeinsamen Fernsehabend im Saal der örtlichen Gaststätte zusammengefunden und entlädt ihre Enttäuschung über das vermeintliche Königspaar als wütender Mob in fremdenfeindlicher Gewalt. Im letzten Akt senkt sich der Wald aus dem Eingangsbild wieder herab (Bühne: Dieter Richter), doch er ist tot und zur illegalen Müllhalde geworden. Alte Kühlschränke, Müllsäcke und sogar ein Autowrack sind da, wo zuvor das Waldidyll vorhanden war. Die Hütte ist zu einem Verschlag verkommen, die Matratze, auf der die Titelfiguren sterben, ist schon vor Jahren hier abgeladen worden. Bei der Gestaltung der Bühnenhintergründe erweist sich das Theater Münster als publikumsnahe und offene, moderne Spielstätte und verwendet vom Publikum eingesandte Waldfotos aus einem eigens veranstalteten Wettbewerb.
Die junge Regisseurin lässt die Reise vom Märchenhaften ins Hier und Jetzt vom Kinderchor aus jungen Heranwachsenden begleiten, die Transparente hochhalten und an die Generation Fridays for Future erinnern. Und das ergibt durchaus Sinn, denn auch in Königskinder sind die Vertreter der nachwachsenden Generation die einzigen, die die Realität erkennen und sich für das Liebespaar einsetzen. Die Erwachsenen mit ihren vorgefertigten Meinungen und Erwartungen und ihrem Traditionalismus verweigern sich dem, was nicht sein kann, weil es nicht sein darf.
Musikalisch sind die Königskinder weit mehr als eine pure Ansammlung von Kinderliedern mit ein wenig Eigenkomposition, was manche ja Hänsel und Gretel vorwerfen. Auch hier hat sich Humperdinck von Kinder- und Volksliedern inspirieren lassen, doch in weit geringerem Maße. Zudem ist seiner Komposition sehr deutlich anzuhören, dass er 1881 und 1882 Richard Wagners Assistent in Bayreuth war, harmonische Komplexität, stimmungsvoll Wogende Melodienböden und Volksliedartiges wechseln sich ab. Der junge Dirigent Henning Ehlert, stellvertretender GMD am Theater Münster, verhilft im Graben den daraus resultierenden zahlreichen Facetten des Werkes mit großer Leidenschaft zu ihrem Recht und breitet dem Sängerpersonal einen wogenden Klangteppich aus.
In den Titelrollen glänzen Haustenor Garrie Davislim mit einem Tenor, der durchaus Wagnerqualitäten aufleuchten lässt. Gastsolistin Anna Schoeck ist eine wunderbare Gänsemagd, die mit klarem Sopran und ausgezeichneter Darstellungskunst gleichermaßen zu überzeugen vermag. Johan Hyunbong Chois Spielmann zeigt seinen raumfüllenden Bariton voller Farben, während Wioletta Hebrowska als Hexe ihren satten Mezzo ertönen lässt. Aus der großen Schar von kleineren Rollen sticht Gregor Dalal als charaktervoller Holzhacker hervor und auch Chor und Kinderchor, von Anton Tremmel betreut, leisten Großartiges.
Dem Theater Münster ist mit dieser Produktion eine ausgezeichnete Hänsel-und-Gretel-Alternative auch für junge Zuschauer gelungen, die ich Ihnen, lieber Opernfreund-Freund ausdrücklich empfehlen kann.
Ihr
Jochen Rüth
15. November 2024
Königskinder
Märchenoper von Engelbert Humperdinck
Theater Münster
Premiere: 12. Oktober 2024
besuchte Vorstellung: 12. November 2024
Regie: Clara Kalus
Musikalische Leitung: Henning Ehlert
Sinfonieorchester Münster
weitere Vorstellungen: 21. und 30. November sowie 29. Dezember 2024, 18. Januar 2025