Die Reihe „Barock+“ im hr-Sendesaal gehört zu den besonders attraktiven Formaten des hr-Sinfonieorchesters. Seit Jahren gibt sich hier das Who-is-Who der Alte-Musik-Szene die Klinke in die Hand: Reinhard Goebel, Emmanuelle Haïm, Bejun Mehta, Masaaki Suzuki, Philippe Herreweghe, Jean-Christophe Spinosi, Maurice Steger und viele andere haben hier am Pult gestanden und mit namhaften Solisten konzertiert. Reizvoll ist dabei, daß nicht nur Musik der Barock-Zeit gespielt wird, sondern das „plus“ Raum für spannende Kombinationen mit Werken aus anderen Epochen läßt. In der neuen Saison hat ein Konzert mit dem Countertenor Valer Sabadus unter der Leitung von Andrea Marcon den Anfang gemacht.
Das „plus“ steht dieses Mal auch im Umfang dafür, daß das Publikum zusätzlich zu einem erfüllten Barockteil, der mit knapp 90 Minuten Dauer bereits als vollständiges Konzert durchgegangen wäre, nach einer Pause noch die Italienische Sinfonie von Felix Mendelssohn Bartholdy spendiert bekommt.
Eine frühe Streichersinfonie, die das Wunderkind Mendelssohn im Alter von 14 Jahren komponierte, eröffnet das Konzert. In den lediglich zwei Sätzen dieser Sinfonie in h-Moll aus dem Jahr 1823 blitzen bei sehr gefälliger Melodik und noch schulmäßig gestaltetem Aufbau Momente von Individualität auf, die den Komponisten der Sommernachtstraum-Ouvertüre, immerhin bereits drei Jahre später entstanden, ahnen lassen. Die Streicher des hr-Sinfonie-Orchesters zeigen sich hier bereits in fabelhafter Form und präsentieren mit wenig und genau dosiertem Vibrato einen schlackefreien und zugleich dichten Klang.
Diese Verbindung von historisch-informierter Spielweise mit einem kraftvollen Sound prägt auch den dann folgenden Barock-Teil. Arien von Händel und Vivaldi wechseln sich gut dosiert mit kurzen und mitreißend interpretierten Concerti Vivaldis ab.
In den Arien darf Valer Sabadus demonstrieren, warum er seit Jahren zu den international begehrtesten Countertenören gehört. Ihn zeichnet eine weiche und biegsame Stimme aus, die in der Mittellage über ein honigsüßes Timbre und in der Höhe über eine glockige Rundung verfügt. Gleich im eröffnenden „Mi lusinga il dolce affetto“ aus Händels Oper Alcina fällt die Manier auf, beim Erreichen hoher Töne und auch beim Herabgleiten ausgiebig Portamenti einzusetzen, was man für eine Geschmackssache halten darf. Zum Niederknien schön gelingen die großen Bögen in Vivaldis „Vedrò con mio diletto“ aus Il Giustino und in Händels „Scherza infida“ aus Ariodante. Nicht in gleicher Weise ideal erscheint die weiche Stimme für die wilden Koloraturen von Händels „Venti, turbini“ aus Rinaldo, die man etwa von Jakub Józef Orliński schon kraftvoller gehört hat. Hier brillieren umso mehr die mit dem Sänger konzertierenden Instrumentalsolisten aus dem Frankfurter Orchester: der bewährte Konzertmeister Ulrich Edelmann und ganz besonders Traian Sturza am Fagott, nachdem zuvor schon in Vivaldis „Sol da te, mio dolce amore“ der Frankfurter Solo-Flötist Sebastian Wittiber seine Barock-Kompetenz an einer Querflöte mit Holzkorpus unter Beweis stellen konnte.
Daß Sabadus die Stärken seiner Stimme bewußt sind, erkennt man an der Wahl der Zugabe: Bei Händels „Ombra mai fu“ aus Xerxes setzt er den ersten Ton zwar ein wenig zu lange vibratolos an, um ihn am Ende endlich schwingen zu lassen, dann aber wird dieser Barock-Schlager mit einer ätherischen Schönheit dargeboten, die alle Kritik verstummen läßt und diesen reichen ersten Teil des Konzerts wunderbar abbindet. Hätte der Abend hier geendet, wäre dies bis dahin bereits ein rundes Konzerterlebnis gewesen.
Auch das Orchester hatte sich unter Andrea Macron schon im ersten Teil mit knackig-selbstbewußtem Sound als gleichberechtigter Partner neben dem Solisten präsentiert. Im zweiten Teil dann gelingt den Musikern in erweiterter Besetzung eine herrlich farbige und ungemein frische Wiedergabe von Mendelssohns Italienischer Sinfonie. Auch hier kann der Dirigent auf die Erfahrung des Orchesters mit historisch informierter Aufführungspraxis bauen, etwa mit zurückhaltendem und genau dosiertem Vibrato bei den Streichern und sprechender Phrasierung. Die gewählten Tempi sind flott, wirken aber nicht gehetzt. Die präsenten Bläser leuchten, das Blech ist gut eingebunden. Nach dem vorwärts drängenden ersten Satz singen die Bratschen im Unisono mit Oboe und Fagott klar und unsentimental das Hauptthema. Locker und duftig gelingt das Menuett. Der Saltarello-Schlußsatz besitzt Feuer und entwickelt einen unwiderstehlichen Drive.
Nach einem reichhaltigen und beglückenden Konzert sieht man das Publikum geradezu beschwingt zu den Garderoben streben.
Michael Demel, 16. November 2024
Felix Mendelssohn Bartholdy: Streichersinfonie Nr. 10 h-Moll
Georg Friedrich Händel: Alcina – Arie „Mi lusinga il dolce affetto“
Antonio Vivaldi: Orlando furioso – Arie „Sol da te mio dolce amore“ / Concerto für Streicher G-Dur („Alla Rustica“) RV 151 / Il Giustino – Arie „Vedrò con mio diletto“
Georg Friedrich Händel: Ariodante – Arie „Scherza infida“
Antonio Vivaldi: Concerto für Streicher g-Moll RV 157
Georg Friedrich Händel: Rinaldo – Arie „Venti turbini“
Felix Mendelssohn Bartholdy: 4. Sinfonie („Italienische“)
hr-Sendesaal, Frankfurt
Konzert am 15. November 2024
Valer Sabadus, Countertenor
Musikalische Leitung: Andrea Marcon
hr-Sinfonieorchester