Nachdem am 6. März 1853 die Uraufführung der Traviata über die Bühne des Gran Teatro La Fenice gegangen war, schrieb der Komponist, dass das Werk ein „Fiasko“ erlebt habe. Das Publikum und die Rezensenten waren in der Tat nicht sonderlich begeistert, denn die Sänger hatten sich fast alle als inkompetent erwiesen. Nur Fanny Salvini-Donatelli, die Interpretin der Titelpartie, hatte Gnade vor den ersten Besuchern von Verdis Oper gefunden, obwohl die Sängerin wegen ihrer Körperfülle das Missfallen des Publikum ernten sollte. 177 Jahre später steht eine der venezianischen Nachfolgerinnen Fanny Salvini-Donatellis auf der Bühne des Fenice, um die Besucher zu begeistern. Ekaterina Bakanova wird allerdings nicht allein deshalb bejubelt, weil sie als Einspringerin die Premiere der Wiederaufnahme zum 20jährigen Jubiläum der Neuinszenierung von 2004, rettet. Man könnte nämlich mit einem beliebten Wort sagen, dass sie die Violetta nicht nur spielt, sondern geradezu ist: gesegnet mit einem großen, harmonisch geführten, genau konturierten und äußerst angenehm in die Ohren dringenden Sopran, begibt sich XY nicht zuletzt stimmlich in die letzten seelischen Winkel einer Figur, die in der Figurenzeichnung zwischen Heiliger und Hure avanciert, um zuletzt zu einem durchaus ergreifenden Tod zu finden.
Der Regisseur Robert Carsen weist in seinem Programmheftbeitrag auf die Tatsache hin, dass die Produktion zur Saisoneröffnung des Opernhauses an einem Ort stattfindet, der nicht zuletzt aufgrund ihrer Beziehung zu den Prostituierten berühmt wurde: die Stadt als Bühne der Lust – und des Geldes. Schon während des Vorspiels spielt money die Hauptrolle, Violetta Valery wird von einer Herde von Freiern förmlich zugeschüttet mit Zaster – im zweiten Akt stehen die Liebenden zwar in jenem von Patrick Konmonth entworfenen Wald, den sich Violetta im ersten Akt in Form einer Tapete als Naturort der Freiheit imaginierte, doch regnet’s keine Blätter, sondern jene großen, ja übergroßen Scheine, die bis zum letzten Akt unübersehbar ihre Besitzer und Besitzerinnen wechseln werden. Für Violetta ist „libertá“ zunächst nur in Form von Kapital denkbar, der bigotte Vater will sie mit Geld bestechen, und Alfredo entwürdigt sie in der Spielszene nicht zuletzt dadurch, dass er sein Verhältnis zu ihr als das eines Freiers zu einer Hure entwürdigt, deren „Liebesdienste“ er mit jenem Geld bezahlt, das er gerade erzockt hat. Alle nehmen das Geld: auch die von Philippe Giraudeau im Las-Vegas-Stil choreographierten Tänzerinnen der Sexy-Dancing-Cowgirl- und Boy-Group, zuletzt der Arzt für seine letzte Spritze. Am Ende regnet es keine Scheine mehr, da die sich Scheinwelt ins Dunkel verflüchtigt hat – und die grüne Tapete, die wir im ersten Akt hinter Violettas Bett sahen, ist nur noch ein Fetzen; ausgeträumt alle Träume von einer „Freiheit“, die man sich erkaufen kann.
Das Drama läuft im Fenice schnell ab, die Emotionen kochen, im Stil einer emotionalen Italianitá, ungefiltert ab, „Liebe und Tod“, wie die Oper nach dem Willen Verdis ursprünglich heißen sollte, überschwemmen trotz dem ubiquitären Einsatz des Geldes mit Macht die Besucher. Im Fenice bleibt trotz oder vielleicht: gerade aufgrund von Carsens Nüchternheit das Melodramma auf der Höhe der Intensität – dies natürlich auch, weil die Titelrolle glänzend besetzt werden konnte. Neben der überwältigend guten Ekaterina Bakanova ist Francesco Demuro ein erstrangiger Alfredo: ein „typischer“ italienischer Tenor, dessen Sensitivität jede Regung des Charakters mit einer Mischung aus sicherer Lyrik und erregter Männlichkeit beglaubigt. Nicht allein „Un di, Felice“ gelingt Beifall provozierend. Bravo! Im Fenice tritt die Figur als Fotograf auf die Szene (und als Pianist, der sein „Brindisi“ selbst am Piano begleiten kann), also auch als einer, der zugleich dazugehört und außen steht; seine Liebeserklärung sind auch die Porträtfotos, die er von der angebeteten Frau schoss. Germont pére ist gleichfalls erstrangig besetzt worden: Nicolai Alaimo spielt einen unangenehm dominanten Mann, der im großen Gespräch mit Violetta auch mal übergriffig wird, weil sie ja seiner Meinung nach nur eine Käufliche ist. Die Geste ist fast zu deutlich, auch wenn die Kompromisslosigkeit und Raffinesse, mit der Germont die Geliebte seines Sohnes traktiert, durch Verdis gelegentlich zauberhafte Musik konterkariert zu werden scheint. Alaimos „Pura siccome di angelo“, also die Erzählung der engelhaften Schwester Alfredos, mit der er Violetta geradezu einlullt, verfehlt seine Wirkung nicht, doch scheint ihm die Regie am Ende so etwas wie Verzeihung zu gewähren, wenn er am Sterbefest der todkranken Prostituierten (zerknirscht?) teilnimmt.
So kann das Fenice die drei Hauptrollen, die alle anderen Partien weit in den Schatten stellen, rollendeckend besetzen: mit der stimmschönen und hinreißend genau agierenden XY, dem Vorzeigetenor Francesco Demuro und dem großartig präsenten Nicolai Alaimo. Das Orchester des Teatro La Fenice gibt zusammen mit dem guten Chor unter dem Dirigenten Diego Matheuz jede Menge brio ins Spiel, betont aber auch mit guten Tempomodifikationen die verschlungenen Wege des Gesprächs zwischen Germont und Violetta. Es ist, man kann’s kaum anders sagen, eine Lust zu hören – und die Szene beglaubigt, ohne radikale Bilder, die den sog. normalen Opernbesucher verschrecken könnten, des Verdi‘schen Realismus, der in der Musik schon immer vorhanden war. In diesem Sinne ist im Uraufführungshaus von Verdis beliebtester Oper bleibt die Parabel über das Geld eine kulinarische Köstlichkeit – das Publikum feierte, zurecht, die Sänger und die Musiker, weil es in der Stadt der Lust und des Geldes eine spannend vibrierende Neuproduktion der Traviata erlebt hatte.
Frank Piontek, 23. November 2024
La Traviata
Giuseppe Verdi
Teatro La Fenice, Venedig
Premiere: 12. November 2004
Besuchte Vorstellung: 22. November 2024
Regie: Robert Carsen
Musikalische Leitung: Diego Matheuz
Orcestra del Teatro La Fenice