Venedig: „Falstaff“ Giuseppe Verdi

Er ist schon ein Prachtkerl. Nicola Alaimo singt die Rolle des (anderen) Prachtkerls quasi rollendeckend. Er ist das fette Weinfass, aber auch der Gourmet, der abgefeimte Betrüger, aber auch der liebenswürdige Lebensphilosoph, der zunächst auf seinem Thron – einem mit blutrotem Stoff ausgestattetem Bett – Hof hält. Nein, Falstaff ist kein durch und durch liebenswürdiger Kerl; wer das Schauspiel-Original „Shakespeares“, also Edward de Veres, des 17. Earl of Oxford, im Vergleich zum Opern-Original liest, bekommt einen bramarbasierenden Ritter von der fetten Gestalt präsentiert, der mehr bösartige Facetten in sich vereinigt, als es der bloße Blick auf Verdis Oper suggerieren würde. Und wenn Nicola Alaimo mit seiner Stimme, die nach allen Seiten begabt ist, den prachtvollen Kerl macht, sind wir, was immer er auch treibt, eh auf seiner Seite. Es ist schlichtweg bezaubernd, wie der Bassist die vielen Tonlagen von Verdis und Boitos singulärer Bühnenfigur vokal ausfüllt: lyrisch, aber auch heldisch, humorvoll, aber auch polternd – ohne seine Stimme in hässliche Regionen zu treiben. Kein Wunder, dass ihm die Zuneigung des Publikums gehört, das mit der Saison-Eröffnungsproduktion von Verdis Meisterwerk einen Leckerbissen serviert bekommt.

(c) Teatro La Fenice

Die Chronologie des wie immer exzellenten Programmbuchs des Fenice verrät uns, dass es Rolando Panerai war, der hier zuletzt vor einem Vierteljahrhundert in der glänzenden Rolle auftrat. Nun zeigt ein Sänger der jüngeren Generation, wie man mit einem eigenen, insgesamt eleganten, aber nicht impotenten Stimmprofil zur Charakterisierung der Gestalt beitragen kann. Das gleichermaßen elegant aufspielende Orchester des Fenice ergänzt diese Lesart unter seinem Leiter Myung-Whun Chung, indem es zwar einerseits die Komödiantik der brillanten, schnellen, gewitzten und durchsichtig instrumentierten Partitur realisiert, sich andererseits aber nicht auf ein mögliches überhitztes Tempo einlässt. Chung nimmt sich die Zeit, auf Ruhepunkte innerhalb des brio hinzuweisen und lyrische Passagen auszukosten, ohne zu schleppen. Es ist bereits eine Freude, den Musikern bei der delikaten Arbeit zuzuhören: Verdi leuchtet an diesem Nachmittag besonders mediterran, oder, um es mit einem Zitat auszudrücken: Falstaff erweist sich mit seiner Konzentriertheit auf das Wesentliche, was viele Worte nicht ausschließt, und auf den sardonischen Witz wie seiner schlussendlichen Fügung in das sog. Unvermeidliche als lateinisches Werk. Und da in italienischen Opernhäusern so etwas wie der „german trash“ des sog. Regietheaters immer noch auf Unverständnis stoßen würde, haben wir es mit einer Deutung von Werk und Figuren zu tun, die niemanden beleidigt – und das hörbar enthusiasmierte Publikum in eine Woge von akustischer und optischer Schönheit baden lässt. Nichts also vom Pessimismus, der in Anselm Gerhardts interessantem, aber einseitigem Programmheft-Beitrag (einer Übernahme aus dem letzten Münchner Falstaff-Programmheft) den Falstaff zu einer Tragödie des Scheiterns eines alten Mannes und eines zerstrittenen Ehepaares erklärt.

War „Shakespeare“ auch ein echter Oxford, so zieht es der Regisseur vor, im Sinne der Komödie die traditionalistischen Stratfordianer in „Shakespeare“, Verdi und Boito zu entdecken. Der klassische „Barde“ tritt, nach dem ersten Bild über die Vorbühne schreitend, höchstpersönlich auf; der Regisseur Adrian Noble, seines Zeichens bis 2003 künstlerischer Leiter der orthodoxen Royal Shakespeare Company, lässt auf der von Dick Bird entworfenen Shakespeare-Bühne (viel Holz auf mehreren Etagen, Galerien und ein offenes Bühnenpodest) die Puppen aus dem Midsummer Night Dream buchstäblich und persönlich tanzen. Fast alles ist hier ein wenig inkonsequentes Theater – auf dem Theater, wenn auch Falstaff Außen vor bleibt. Klar: der Spuk, den die Frauen und Männer von Windsor am Ende mit Falstaff treiben, provoziert geradezu die Idee, Falstaff mit dem Mitsommernachtstraum zu verbinden; Nanetta sieht am Ende, eingekleidet vom Kostümbildner Clancy, aus wie eine Mischung aus Feenkönigin und Madonna. Puck und die Fairies tun schon als Hommage an den Dichter gute Dienste. Kommt hinzu ein Schuss Italianità – die witzigsten Figuren sind jene, die mit ihrem teils grotesken commedia-Masken durch einen altenglischen Verdi-Opern-Karneval des fin de siècle spazieren. Es ist jene Mischung aus unverstellter Poesie und Witz, die mit der üppigen Bühnenausstattung harmoniert. Auf der Bühne dürfen sowohl die Bürger wie auch der Outcast Recht behalten – und richtig brutal geht es im Schlussbild denn doch nicht zu. Man muss es nicht bedauern, wenn der komödiantische Realismus Verdis und Boitos hellsichtige Menschlichkeit eher in Sicht auf die freundlichen Seiten des Lebens interpretiert.

Balsamisch sind ja schon die Stimmen der anderen Hauptdarsteller. Unter den Damen ragt Selene Zanetti heraus; ihre Alice Ford klingt sehr splendid und harmonisch – wie die der Nanetta Caterina Sala, zu der mit René Barbera ein liebenswürdiger wie wohltönend strömender Fenton tritt. Vladimir Stoyanov gibt dem Mr. Ford die Färbungen eines provinziellen, aber doch nicht impotenten Othello – neben Alaimo und Zanetti galt ihm der stärkste Beifall, wenn man einmal die herzlich gut aufgelegte Mrs. Quickly der Sara Mingardo kurz vergisst, die ihren Schwestern im Geiste, unter ihnen Veronica Simeoni als Meg Page, während der turbulenten Waschkorb-Szene seelenruhig einen aus einem Flachmann in den caffé gibt; das sind so hübsche Details am Rande. Gut bis sehr gut auch die anderen Männer: Christian Collia als Dr. Cajus, Christiano Olivieri als Bardolfo und Francesco Milanese als Pistola. Hier wackelt nichts.

Tutti gabbati? Die Zuhörer und -schauer sind es während dieses Falstaffs auf keinen Fall.

Frank Piontek, 21.11. 2022


„Falstaff“ Oper von Giuseppe Verdi

Venedig, La Fenice Opera House

Premiere: 18.11.2022 / Besuchte Generalprobe: 16.11.2022

Inszenierung: Adrian Noble

Musikalische Leitung: Myung-Whun Chung

Orchestra del Teatro la Fenice