Der einem griechischen Theater nachempfundene Konzertsaal der Kölner Philharmonie war der würdige Rahmen für die Aufführung von Christoph Willibald Glucks Oper Orfeo ed Euridice, in der Gluck und sein Librettist Ranieri de’Calzabigi einen der berühmtesten mythologischen Stoffe der Antike in Szene setzen. Allerdings haben Gluck und Calzabigi die tragische Geschichte des von Apoll unterwiesenen Sängers Orpheus und der Baumnymphe Eurydike in einem entscheidenden Punkt gegenüber der berühmten Vorlage in Ovids „Metamorphosen“ geändert. Eurydike, die durch einen Schlangenbiss ihrem Gatten entrissen wird und in der Unterwelt ein Schattendasein erdulden muss, wird durch den Gott Amor zum zweiten Mal zum Leben erweckt. Denn auch in Calzabigis Libretto widersetzt sich Orpheus dem Gebot, die Geliebte bei der gemeinsamen Flucht aus dem Hades nicht anschauen zu dürfen, Eurydike sinkt entseelt zu Boden, Orpheus will ihr in den Tod folgen, wird daran aber von Amor gehindert und für seine Treue zu Eurydike belohnt: Eurydike erwacht erneut zum Leben und den Liebenden steht ein glückliches Leben bevor. Dieses „Lieto fine“, das der Gott Amor als ein deus ex machina mehr als überraschend und den tragischen Stoff konterkarierend den Liebenden schenkt, stieß in der Rezeptionsgeschichte der Oper immer wieder auf Missbehagen und wurde – ebenso wie die als die zu konventionell empfundene Ouvertüre- in vielen Wiederaufnahmen von Glucks berühmter Reformoper einfach getilgt.
In Köln konnte man nun die Parmer Fassung der Oper erleben, die von Gluck selbst 1768/69 aus Anlass der Festlichkeiten zur Hochzeit zwischen Maria Amalia von Österreich und Ferdinand von Bourbon-Parma gegenüber der Wiener Urfassung vor allem in der Instrumentierung verändert und neu eingerichtet worden war. Hatte in der Wiener Urfassung auch noch mit Gaetano Guadagni ein Alt- bzw. Mezzokastrat die Hauptrolle gesungen, so übernahm in Parma der Soprankastrat Guiseppe Millico die Rolle, sodass Gluck nun die Partie des Orpheus um eine Terz bzw. Quart höher setzte. So ist die Parmer Fassung nicht nur dem vielleicht besten Soprantenor unserer Tage, nämlich Bruno de Sà, auf den Leib geschrieben, sondern auch der weltberühmten Mezzosopranistin Cecilia Bartoli, die als Orfeo nicht nur in Salzburg bereits Triumphe feiern konnte. Gegenüber der Wiener Uraufführung spielt die Handlung nun auch nur in einem einzigen Akt, wie der neue Titel Atto d‘ Orfeo programmatisch verkündet, da Glucks Oper jetzt den Schlussakkord in dem mehrteiligen Gesamtkunstwerk Le feste d‘Apollo bildet. Auch in ihr kommt es eigentlich zum Happy End, aber in Köln wird dieses glückliche Ende wie schon bei den Salzburger Festspielen im August 2023 ausgemerzt zugunsten einer Wiederholung der Eingangssequenz, sodass die Oper mit einem Klagegesang im magischsten Pianissimo endet.
Die konzertante Aufführung von Glucks bahnbrechender Reformoper, in der es dem Komponisten um glaubhafte Gefühle und dramatischen Ausdruck und nicht mehr vorrangig darum geht, den Sängern in eher formelhaften virtuosen Musiknummern eine Plattform für ihre sängerische Brillanz zu bieten, konnte naturgemäß weder mit den Mitteln des barocken Illusionstheaters oder den eigentlich vorgesehenen Ballettszenen (Tanz der Furien, Tanz der seligen Geister) prunken noch sich an einer modernen Deutung des Stoffs versuchen, wie sie z.B. Jean- Pierre Ponnelle 1977 in einer Inszenierung der Kölner Oper angeboten hatte, als er die Handlung im Wien des Uraufführungsjahres (1762) ansiedelte. Yvonne Minton und Lucia Popp sangen damals die Hauptpartien. Tempi passati! In der Philharmonie gelang es dennoch, Glucks Oper eindrucksvoll in Szene zu setzen. Die je nach Handlung in rotes, bläuliches oder strahlend helles Licht getauchte Orchestra, die hölzerne Wendeltreppe hinauf zum Balkonbereich sowie die Eingangstür in den Konzertsaal rechter Hand neben der Wandeltreppe bildeten die stimmungsvolle Kulisse des tragischen Geschehens, das durch die beiden Sängerinnen der Aufführung und den Chor auch schauspielerisch eindringlich dargeboten wurde. Wer das Glück hatte, in den ersten Reihen zu sitzen, konnte in Mimik und Gestik der Protagonistinnen alle Schattierungen von Trauer, Verzweiflung, aber auch Glück und Seligkeit ablesen. Da vermisste man die ausgefeilte Inszenierung auf einer Opernbühne zu keiner Zeit, zumal auch weitere Details dieser wunderbaren konzertanten Aufführung ihren Effekt nicht verfehlten. So liegt Eurydike zu Beginn entseelt auf dem Boden der Orchestra und ihr Tod wird von den Hirten und Nymphen, die alle Kerzen in den Händen halten, und von dem in schwarzer Trauerkleidung statuenhaft verharrenden Orpheus in vollendeter Klage besungen. Amor ist bei seiner frohen Botschaft an Orpheus in ein rotes Kleid gewandet und trägt eine Maske, wodurch Leidenschaft und Unbedingtheit, auch Blindheit dieses überwältigenden Menschheitsgefühls der Liebe symbolisiert werden. In der seligen Vorfreude auf die Begegnung mit Eurydike in der Unterwelt hat Orpheus seine Trauerkleidung in einen strahlend weißen Hochzeitsanzug vertauscht. Es ließen sich noch viele derartige farbsymbolische Inszenierungsideen beschreiben, die insgesamt zu der mehr als stimmigen Verbildlichung des Geschehens beitrugen.
Musiziert wurde auf hohem Niveau. In der Titelpartie brillierte Cecilia Bartoli. Ihre enorme Musikalität, ihre stilsichere Gestaltung, die Klangschönheit ihres Gesangs in allen Registern und Lagen machten den Abend zu einem unvergesslichen Erlebnis. Alle Stimmungen und Gefühlsschwankungen von Orpheus – Trauer, Verzweiflung, Schmerz, Hoffnung oder Seligkeit – werden von Cecilia Bartoli mirakulös in Gesang umgesetzt. Der immense Schmerz von Orpheus über den allzu frühen Tod des geliebten Menschen wird hier geradezu körperlich spürbar. Dabei scheut Cecilia Bartoli auch ein hochexpressives Aufschreien nicht. Das große C-Dur-Rondo „Che farò senza Euridice“, das Kritiker immer wieder als eher kühl und nüchtern bezeichnet haben, gestalteten Cecilia Bartoli und der Dirigent Gianluca Capuano nicht als überdehnten Trauergesang, sondern als temporeiche, dramatische und herzergreifende Klage, eben genau so, wie es in der Partitur gefordert wird: als „Andante espressivo“. Erst in der letzten Strophe wird die vertraute Hörgewohnheit des Zuhörers bei diesem Opernarienohrwurm von Bartoli und Capuano mit einem gemäßigten elegischen Tempo befriedigt.
Mélissa Petit verkörpert in dieser Aufführung nicht nur die Rolle der Eurydike, sondern leiht auch Amore ihre bezaubernde, silbrig hell klingende Sopranstimme. Man kann verstehen, dass Orpheus diesem verführerischen Sirenenklang nachgibt und das göttliche Gebot, sich nicht nach der Geliebten umzudrehen, missachtet.
Der Instrumentalpart war bei der auf alten Instrumenten spielenden Les Musiciens du Prince-Monaco aus dem Fürstentum Monaco unter ihrem vorzüglichen Dirigenten Gianluca Capuano bestens aufgehoben. Schon die Ouvertüre ließ aufhorchen. Die Balance zwischen Piano und Fortissimo, der gemessene Bewegungsverlauf des von Gluck ausgewiesenen Allegros bewiesen, dass dieses 2016 auf Initiative Cecilia Bartolis gegründete Orchester sich zu Recht als kompetenter Anwalt der Barockmusik einen Namen gemacht hat. Der Gegensatz von Furien und Elysium in der Unterweltszene des 2. Akts wurde in der Interpretation dieses wunderbaren Klangkörpers zu einem musikalischen Erlebnis: hier das wilde Toben der Furien, dort ein geradezu überirdisches, himmlisches Schweben der seligen Geister.
Das Vokalensemble „Il Canto di Orfeo“ versah den Chorpart makellos und faszinierte in den dynamischen Ausbrüchen der Furien, im Gesang der Geister oder den im schönsten Pianissimo gestalteten Klagen über den Tod Eurydikes ganz ungemein.
Das Publikum, das der Aufführung in gebannter Stille gefolgt war und – wie wohltuend! – nicht ein einziges Mal die Stimmung durch Szenenbeifall gestört hatte, verharrte ergriffen nach dem letzten Ton noch lange schweigend, feierte dann aber alle Beteiligten enthusiastisch und würdigte neben den großartigen Leistungen von Cecilia Bartoli und Mélissa Petit ganz besonders die bewundernswerte Interpretation der herrlichen Musik Glucks durch das Ensemble Les Musiciens du Prince-Monaco.
Norbert Pabelick, 24. November 2024
Redaktions-PS:
Liebe Opernfreund-Leser. Wenn Sie die bei uns eigentlich immer (!) üblichen Bilder erwarten, dann müssen wir Sie zum jetzigen Zeitpunkt enttäuschen. Von diesem grandiosen Ereignis gibt es wohl keinerlei offizielles Bildmaterial. Waren Sie zufällig vor Ort und haben privat passable Handyfotos gemacht? Dann gerne honorarfrei an opera@e.mail.de schicken. Danke. P.B.
Orfeo ed Euridice
Christoph Willibald Gluck
Philharmonie Köln
Konzertante Aufführung
am 22. November 2024
Dirigent: Gianluca Capuano
Les Musiciens du Prince-Monaco