Dass die Hauptpersonen in Giacomo Puccinis Oper „La Boheme“ in Armut leben und an Hunger und Kälte leiden, ist keine neue Erkenntnis. Und dass eine Inszenierung diesen Armutsaspekt in den Vordergrund stellt, ist auch nicht neu. Neu hingegen dürfte die ungewöhnliche Idee sein, die Alize Zandwijk, die leitende Regisseurin des Bremer Schauspiels, für ihre erste Inszenierung einer klassischen Oper entwickelt hat: Sie initiierte eine Kooperation mit der. Bremer Tafel (eine gemeinnützige Organisation, die Lebensmittel an Bedürftige verteilt). Die Zuschauer waren im Vorfeld gebeten worden, haltbare Lebensmittel wie Kaffee, Reis, Nudeln, Konserven oder Schokolade zur Vorstellung mitzubringen. Die wanderten dann zunächst als Requisiten auf die Bühne, um dann am nächsten Tag der Bremer Tafel gespendet zu werden. Eine großartige Idee, die allerdings Konsequenzen für die Inszenierung hatte. So spielt der 2. Akt nicht im Café Momus, sondern in einer Lagerhalle, in der Lebensmittel sortiert werden und in der der Händler Parpignol (Fabian Düberg) als riesiger rosafarbener Eisbär auftaucht. Der Schauplatz Paris, wo die Oper eigentlich spielt, findet in dieser Inszenierung nicht statt. Für die Dachkammer der Künstlerfreunde hat Bühnenbildner Theun Mosk auf der rechten Bühnenseite eine Mini-Spielfläche aus Paletten über die ersten Reihen des Zuschauerraums gezogen, die so begrenzt ist, dass spielerische Aktionen, wie sie besonders im 4. Akt eigentlich stattfinden sollten, kaum möglich sind.
Stattdessen hocken oder knien die Akteure auf engstem Raum. Der 3. Akt spielt wieder in dieser Halle mit Rolltor und Neonbeleuchtung. Das übliche Wirtshaus gibt es nicht. Halbherzig fallen ein paar Schneeflocken im Hintergrund. Romantik ist in Zandwijks Inszenierung jedenfalls komplett ausgespart. Aber das war auch ihre erklärte Absicht. Trostlosigkeit im Leben wie im Tod wollte sie zeigen. Denn bei Mimis Tod werden diese und Rodolfo allein gelassen. Alle anderen stehen weit im Bühnenhintergrund. Ein einsames Ende, das durchaus anrührend gelungen ist. Ansonsten gerät Zandwijks Personenführung oft sehr statisch, manchmal fast wie bei einer konzertanten Aufführung. Auch mit dem hervorragenden Kinderchor (Einstudierung Karl Bernewitz) kann sie nicht viel anfangen – der steht einfach nur an den Seiten oder in der Bühnenmitte. Die Kostüme von Anne Sophie Domenz sind Geschmackssache, der rosa Tüll Rock von Musetta ist allerdings an Scheußlichkeit kaum zu überbieten.
Das Bremer Theater kann alle sechs Hauptpartien aus dem eigenen Ensemble doppelt besetzen. In der Premiere war eine stimmige Leistung aller mit kraftvollen und ausdrucksvollen Stimmen zu erleben. Adele Lorenzi berührt als Mimi mit schönen und strahlenden Tönen, obwohl man sich manchmal auch ein Piano gewünscht hätte. Oliver Sewell ist mit seinem runden Tenorklang und sicherer Höhe ein überzeugender Rodolfo. Am meisten beeindruckt Elias Gyungseok Han mit seinem virilen, klangschönen Bariton als Marcello. Elisa Birkenheier singt die Musetta mit ansprechender Frische, auch wenn sie als Charakter regiebedingt etwas blass bleibt. Schaunard und Colline sind bei Julian Arsenault und Hidenori Inoue bestens aufgehoben. Als Hauswirt Benoit hat Daniel Ratchev einen pointierten Auftritt.
Am Pult der wie immer qualitätsvoll musizierenden Bremer Philharmoniker sorgt Sascha Yankevich für opulenten Puccini-Klang und lässt die kleinen Schwächen der Inszenierung in den Hintergrund treten. Das Publikum hatte jedenfalls seine Freude – und noch mehr wahrscheinlich die Bremer Tafel.
Wolfgang Denker, 2. Dezember 2024
La Bohème
Giacomo Puccini
Theater Bremen
Premiere am 30. November 2024
Inszenierung: Alize Zandwijk
Musikalische Leitung: Sascha Yankevich
Bremer Philharmoniker
Weitere Vorstellungen: 6., 13., 23., 25., 29. Dezember 2024