Essen: „Parsifal“, Richard Wagner

Es ist in der knapp 40-jährigen Geschichte des Essener Aalto-Theaters bereits der dritte Parsifal, der auf die Bühne gebracht wird, und alle drei Produktionen waren von bemerkenswerter Unterschiedlichkeit. 1991 war es Jaroslav Chundela, der symbolträchtig bunte, ja holzschnittartige Bilderwelten auf die Bühne brachte. 2013 lud Joachim Schlömer auf die Intensivstation, eine Produktion, die in der Ära Soltesz ihre Meriten ausschließlich im Musikalischen hatte. Und nun, 2025, inszeniert Roland Schwab, und der amtierende Essener GMG Andrea Sanguineti dirigiert. Der Abend gerät zu einem veritablen Erfolg, ja, vielleicht ist es die bislang überzeugendste Deutung des Werkes am Essener Opernhaus.

Beherrschendes Element auf der Bühne ist ein gekrümmter Tunnel, der in seiner Abstraktheit keine konkrete Verortung zulässt, und so hat man hier wirklich eine bemerkenswerte Umsetzung des „zum Raum wird hier die Zeit“ gefunden. Bühnenbildner Pierro Vinciguerra baut eine geniale Konstruktion, die die Gedankenspiele der Regie und das Wesen der Musik aufnimmt. Alles ist im Fluss, die Zeit, das Leben – eine bildgewordene Unendlichkeit, ohne Anfang, ohne Ende, den Zuschauer in gewisser Weise einsaugend. In dieser Unendlichkeit treffen Wesen aufeinander, die schon lange ihr Heil suchen und es doch nicht finden.

© Matthias Jung

Wagners Musik in seinem letzten Bühnenwerk hat eine unglaubliche meditative Kraft. Es ist kein Drängen, kein Stürmen – kaum gibt es schnelle Tempi, alles strömt, ist Klang. Dieser Idee nimmt sich die Regie an, und wenn während der Ouvertüre mittels Video (Ruth Stofer) der unfassbar langsame Gang durch die im dritten Akt besungene „Aue“ bebildert wird, finden Musik und Film unglaublich gut zusammen. Doch hinter der Aue lauert dann eben der dystopische Zeittunnel, der grau und kalt beleuchtet zunächst nichts von Ausweg oder Erlösung wissen will. Im Gegenteil: Er steht unter Wasser, es ist kein Ort des Verweilens. Im weiteren Verlauf erfahren wir auch, was den Tunnel befüllt und ihn fließen lässt: Amfortas ritualisierter Aderlass. So wie das Wasser immer weiterfließt, fließt auch scheinbar das Blut des Gralskönigs unendlich weiter und treibt alle immer weiter voran in der Zeit. Bildgewaltig wird das Leid zum bühnenbeherrschenden Element und lässt den Zuschauer am Ende des ersten Aktes fast bedrückt zurück. Im zweiten Akt wandelt sich der Zeittunnel in Opulenz. Die berühmte Installation „TV-Garden“ des koreanischen Künstlers Nam June Paik stand hier Pate, und so blitzen zwischen urwaldartigen Pflanzenwelten zahlreiche Monitore auf. Auf ihnen beobachten Augen das Treiben. Parsifal wird hier mit sich selbst konfrontiert – eine spannende Idee, die neben dem Lustaspekt der Blumenmädchen auch eine Reflexion über das eigene Sein im Fluss der Zeit beschwört. Letztlich türmt sich hier aber eine Scheinwelt auf, die – natürlich – keinen Bestand hat und zum Untergehen verdammt ist.

Im Vorspiel des dritten Akts deutet sich bereits an, dass sich nun etwas geändert hat. Parsifal läuft in einem erneut ausgesprochen stimmigen Film während des Vorspiels durch einen postapokalyptischen Wald. Alles ist tot, abgestorben, der Held muss eine Gasmaske tragen. Alles ist lebensfeindlich. Gibt es keine Luft zum Atmen mehr? Wenn sich der Vorhang hebt, ist auch auf der Bühne das Wasser versiegt. Ein Pappverschlag dient Gurnemanz als Behausung. Der ewige Fluss scheint gestoppt. Die Erlösung kann kommen – und damit auch das Ende der Zeit?

© Matthias Jung

Roland Schwab betont in seinen Ausführungen auch immer wieder Verbindungen zu anderen Religionen, etwa zu von Wagner zitierten Mantras aus dem Hinduismus. Wenn dieser Abend eine Stärke hat, dann ist es das meditative Momentum, das Anreißen von Fragen, ohne sie final zu beantworten. Das gelingt außerordentlich gut. Wünscht man sich in anderen Produktionen klare Aussagen und das Beantworten von an das Werk gerichteten Fragen, wird in diesem Parsifal das Offene, das nicht Fassbare zur Stärke.

Auch wenn die Bildsprache an einigen wenigen Punkten sehr plakativ gerät, wie etwa beim ersten Auftritt der Gralsritter, die wie eine Gruppe rollatorengestützter Zombies auf die Bühne wanken, hat der Abend eine große Tiefe, eine Seele, die den Zuschauer abholt und mit auf eine meditative Reise nimmt.

Gerade dieses meditative Momentum findet sich auch in der Lesart des Dirigenten wieder, der die Essener Philharmoniker zu Bestleistungen antreibt. Andrea Sanguineti wählt die Tempi tendenziell eher gemächlich. Dabei nimmt er sich Zeit und Muße, um die feinen Nuancen der Wagnerschen Musik zu entfalten. Gleich einer Blüte legt er Blatt für Blatt frei, verweigert sich dem dumpfen Dröhnen und lässt die Klänge weich und satt fließen. Jeder noch so leise und sanfte Ton im Holz wird fein und sauber zu Ende musiziert, das Blech ist kraftvoll und präsent, aber nie überlagernd. So entsteht ein vom Orchester auf den Punkt musizierter, sehr weicher und sanfter Wagner-Klang, der am Ende des Abends vom Publikum mit einem Jubelsturm belohnt wird.

© Matthias Jung

Beachtlich ist auch das Niveau der Sängerinnen und Sänger, die maßgeblich zum Erfolg des Abends beitragen. Bettina Ranch ist eine Kundry, die stimmlich in allen Lagen exzellent klingt und durch beachtliche Textverständlichkeit besticht. Der Gurnemanz von Sebastian Pilgrim ist weniger Oberpriester, sondern selbst Treibender im Fluss der Zeit. Der Sänger überzeugt neben seiner kraftvollen und gut klingenden Stimme auch szenisch. Heiko Trinsinger als Amfortas beeindruckt mit seiner zutiefst bewegenden szenischen Leistung und gefällt dazu auch stimmlich. Mit Kraft, aber dennoch weich und wohlklingend meistert er seine Partie. Der Klingsor von Almas Svilpa ist von düsterer Dämonie und überzeugt nicht minder. Einzig Robert Watson in der Titelpartie bleibt gerade im ersten Akt sehr zaghaft. In den lyrischen Passagen klingt seine Stimme wunderbar, aber die Höhen scheinen ihm nicht immer leichtzufallen. In lauten Passagen bleibt er ein wenig kraftlos. Die zahlreichen kleinen Partien sind alle bestens besetzt, besonders das Ensemble der Blumenmädchen überzeugt.

Der Chor des Essener Opernhauses meistert seine große Aufgabe zufriedenstellend. Manchmal würde man sich ein bisschen mehr Schlagkraft wünschen, ein bisschen mehr Homogenität im Klangbild der Herren. Aber die Leistung ist trotzdem beachtlich und trägt zu einem mehr als zufriedenstellendem musikalischen Eindruck bei.

© Matthias Jung

Am Ende des Abends jubelt das Publikum. Die Solisten – allen voran Kundry und Gurnemanz – werden mit wahren Bravo-Salven überschüttet, ebenso Dirigent und Orchester. Auch das Produktionsteam erntet Jubel und Bravo-Rufe. Das sonst als konservativ und meinungsstark geltende Wagner-Publikum zeigt sich hochzufrieden. In der Tat ist dem Essener Haus mit dieser Produktion ein großer Wagner-Abend gelungen, der in seiner Bildsprache beeindruckt, aber in seiner Deutung auch viel Raum zum Nachdenken, zum Reflektieren gibt. Musikalisch knüpft der Abend in jeder Hinsicht wieder an die herausragenden Zeiten des Essener Hauses an. Bravo!

Sebastian Jacobs, 17. März 2025


Parsifal
Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen von Richard Wagner

Aalto-Theater Essen

Premiere am 16. März 2025

Inszenierung: Roland Schwab
Musikalische Leitung: Andrea Sanguineti
Essener Philharmoniker