Stuttgart: „Der Tod in Venedig“, Benjamin Britten / Demis Volpi

Eine Ko-Produktion zwischen der Stuttgarter Staatsoper und dem Stuttgarter Ballett stellt die Inszenierung von Benjamin Brittens 1973 entstandener, auf der gleichnamigen Novelle von Thomas Mann beruhender letzter Oper Der Tod in Venedig dar, die seit einiger Zeit wieder an der Staatsoper Stuttgart zu sehen ist. Die hier zu besprechende Derniere geriet zu einem beeindruckenden Opernabend. Demis Volpi zeichnete in Personalunion für Regie und Choreographie verantwortlich. Das Bühnenbild und die Kostüme besorgte Katharina Schlipf. Volpi, der selbst aus den Sphären des Balletts stammt, hat ausgezeichnete Arbeit geleistet. Er vermag alle Beteiligten, Sänger und Tänzer, stringent zu führen und wartet zudem mit einem klug durchdachten übergeordneten Konzept auf.

Von einer konkreten Verortung der Handlung will das Regieteam nichts wissen und siedelt das Ganze vielmehr in einem abstrakten Rahmen an. Die von hohen Plexiglas-Scheiben dominierte Bühne ist fast leer. Mit Hilfe der rege eingesetzten Drehbühne lassen sich die Wandelemente in die verschiedensten Stellungen bringen und sich gegeneinander verschieben. Lediglich auf der rechten Seite befindet sich ein großer Bücherhaufen, aus dem zu Beginn Aschenbachs Stimme dringt. Erst nach einer Weile wird der Dichter inmitten seiner Bücher sichtbar und beklagt vehement seine Schaffenskrise. Darin ähnelt er ein wenig Goethes Faust, der sich in einer vergleichbaren Situation befindet. Die Bücher sind Aschenbachs Umwelt, ansonsten enthält der von Frau Schlipf auf die Bühne gestellte Gedankenraum keine Requisiten. Ein traditionelles Venedig erblickt man in Volpis Inszenierung nicht, an der Aufzeigung von Äußerlichkeiten ist ihm nichts gelegen. Vielmehr interessiert ihn die Innenwelt Aschenbachs. Ob dieser wirklich nach Venedig reist, bleibt unklar. Eher nicht, würde ich sagen. Er bleibt die ganze Zeit über in seinem Raum. Die Fahrt in die Lagunenstadt stellt lediglich eine Imagination Aschenbachs dar. Das Ganze ist eine Reise in sein Inneres, die durch die szenische Entrümpelung des atmosphärisch dichten Handlungsraumes seitens des Regieteams sogar noch verstärkt wird. Das Bühnenbild zitiert mehrere Kunstwelten und Kunstsprachen, für die augenscheinlich die Bilder von Daniel Richter Pate gestanden haben.

In hervorragender Art und Weise legt Volpi die verschiedenen Schichten von Aschenbachs Psyche frei. Dazu bedient er sich eindrucksvoller, oft sehr surreal anmutender Bilder. Das ganze Geschehen ist lediglich eine ausgemachte Kopfgeburt des ausgebrannten Schriftstellers, in dessen Phantasie sich Realität und Traum miteinander vermischen und der sich ständig dem Einfluss eines gleich in sieben Rollen schlüpfenden Gegenspielers ausgesetzt sieht. Dabei verliert er schließlich vollauf die Orientierung. Hier spielt auch die Spiegelthematik mit rein. Die Menschen, denen Aschenbach begegnet, sind oft wie ein Spiegel für ihn (Programmheft S. 6). Ebenfalls mit Spiegeleffekten arbeitet das Bühnenbild. Auch ausdrucksvolle Lichtstimmungen kommen nicht zu kurz. Dem Publikum offenbart sich die Innenschau eines ausgebrannten Dichters, der sich in den vierzehnjährigen Knaben Tadzio verliebt, der hier der Anführer einer Schar von Knaben ist, die in der Strandszene statt Sandburgen Bücherhaufen aufbauen. Der Spielort ist in dieser Szene eine Bibliothek, was nicht nur die zahlreichen Bücher, sondern auch einige Bücherwagen belegen.

Während Britten für Aschenbach einen Sänger vorgesehen hat, sind Tadzio und seine Familie mit Tänzern besetzt – ein probates Mittel für Volpi, um aufzuzeigen, dass eine Kommunikation zwischen Aschenbach und Tadzio nicht möglich ist, weil beide in verschiedenen Welten leben. Berührungen zwischen den beiden finden nicht statt. Lediglich einmal träumt sich Aschenbach in eine zarte Handberührung mit Tadzio hinein. Im Folgenden beginnt er wie das Objekt seiner Liebe ausgelassen zu tanzen. Das ist einer der stärksten Eindrücke der gelungenen Inszenierung. Deutlich wird, dass Aschenbach stets aufs Neue zwischen apollinischen und dionysischen Traumelementen hin und her gerissen wird. Vernunft und Rausch liefern sich einen ausgeprägten Kampf. Der konventionell dargestellte, mit Gold bemalte Apollon wird von einem stummen Tänzer gegeben, seine einem Countertenor anvertraute Stimme ertönt aus dem Off. Im Ambiente dieser Göttergestalt ist es manchmal ganz schön kitschig; die dem Gott zugeordnete riesige rosa Lotusblüte spricht in dieser Beziehung für sich. Apollon deutet der Regisseur als eine Art überhöhtes Alter Ego von Tadzio, das zudem eine stärkere Körperlichkeit als der Junge aufweist. Angenehm ist, dass Aschenbachs homoerotische, ja fast pädophile Seite seitens der Regie nicht überbetont wird; ein irgendwie geartetes Coming out des Schriftstellers spielt hier keine Rolle. Gegen Ende wird der Dichter jäh auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, als sein Gegenspieler dem Gott Apollon die Goldfarbe vom Körper abwischt. Am Ende bricht Aschenbach tot zusammen, darf sich aber dann doch wieder erheben. Sein Tod ist ebenfalls lediglich eine Erscheinungsform seiner ausgeprägten Innenschau und nur Traum, nicht Realität. Das war alles sehr überzeugend und mit einer famosen Personenregie und einer guten Choreographie versehen.

Britten hat eine abwechslungsreiche, sanfte und leicht dahinfließende Musik geschrieben, die von Dirigent Duncan Ward und dem bestens disponierten Staatsorchester Stuttgart facettenreich und mit großem Elan zum Klingen gebracht wurde.

Gesanglich vermochte in erster Linie Matthias Klink in der Partie des Aschenbach sehr stark für sich einzunehmen. Fast die ganze Zeit über auf der Bühne, stürzte er sich mit einem Maximum an ausgeprägter Energie, hoher darstellerischer Intensität und enormer Ausdruckskraft  in seine Rolle, der er schon schauspielerisch ein überaus gelungenes Gepräge zu geben vermochte. Und gesanglich blieben bei seinem vorbildlich im Körper fokussierten, wandelbaren und sehr nuancenreichen Tenor auch keine Wünsche offen. Das Rollenportrait, das er kreierte, war in höchstem Maße ansprechend. In dem Aschenbach hat Klink wahrlich seine absolut beste Partie gefunden. Bravo! Mit trefflich fundiertem, voll und rund klingendem Bariton sang Pawel Konik den Gegenspieler Aschenbachs, der, wie oben bereits erwähnt, in sieben Charaktere schlüpft. An den stimmlichen Leistungen von Alma Ruoqi Sun (Erdbeerverkäuferin, Straßensängerin), Andrew Bogard (Englischer Angestellter im Reisebüro) und Simon Schnorr (Fremdenführer in Venedig) gab es nichts auszusetzen. Mehr Stimmkraft hätte man sich von Alberto Roberts Glasbläser und Straßensänger gewünscht. Dem Countertenor Matthias Rexroth war die Stimme des Apollon anvertraut, während der Tänzer Matteo Miccini den Gott tanzte. Gut gefiel Alexei Orohovsky aus dem Tanzensemble als Tadzio. Gefällig waren die zahlreichen Gesangs- und Tanz-Nebenrollen. Der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor Stuttgart machte seine Sache gut.

Ludwig Steinbach, 19. März 2025


Der Tod in Venedig
Benjamin Britten

Staatsoper Stuttgart

Premiere: 7. Mai 2017
Besuchte Aufführung: 19. März 2025

Inszenierung und Choreographie: Demis Volpi
Musikalische Leitung: Duncan Ward
Staatsorchester Stuttgart