Buchkritik: „Musik und Heimat“, Christiane Wiesenfeldt

Weites Feld

Musik und Heimat nennt sich das bei Bärenreiter/Metzler erschienene Buch von Christiane Wiesenfeldt und weist mit seinem Cover auf seinen Inhalt hin: Eine schöne Südländerin bringt lächelnd wohl Volkstümliches zu Gehör, eine Gruppe renaissancenah Gekleideter übt sich im Choralgesang, zur Zeit der Aufnahme noch ohne Probleme als Zigeuner Bezeichnete spielen auf Zupfinstrumenten, und ein distinguierter Herr blickt vom Waldesrand her auf ein fernes Dörflein, offensichtlich von Heimweh beschwert.

Dem einsamen Herrn kann man unterstellen, dass er in Gedanken gerade an Text oder Musik, die seine Sehnsucht nach der Heimat ausdrücken, arbeitet, ansonsten weisen immerhin zwei der vier Bildchen auf instrumentale Musik hin, während sich das thematisch aufgebaute Inhaltverzeichnis in dieser Hinsicht noch neutral verhält, der Schwerpunkt in den meisten Kapiteln aber auf den Texten der besprochenen Werke liegt, zunächst aber das Verhältnis, das Heimat und Musik zueinander haben, geklärt wird. Vorangestellt ist dem Buch ein Zitat des bereits mit 25 Jahren als Frühvollendeter gestorbenen Novalis, der meint, „der vollendete Mensch muss gleichsam zugleich an mehreren Orten und in mehreren Menschen leben“. Diesem Zitat widersprechen allerdings viele Kapitel im Buch, so die über die italienischen und der türkischen Gastarbeiter, deren Sehnsucht nach der einen Heimat sich in ihren Liedern manifestiert.

Wiesenfeldt nimmt zum Verhältnis von Mensch, Musik und Heimat Stellung, ausgehend von der bemerkenswerten Einsicht, dass der nur im Deutschen zu findende Begriff ein durchaus umstrittener ist, dass der der „Heimatmusik“ ein leicht tümelnder Touch anhaftet, sie aber durchaus „Speicher von Heimat“ sein , dass ihr Klang Zugehörigkeit und Erinnerung schaffen kann und dass sie im Gebirge eine bedeutendere Funktion hat als im nordischen Flachland. Das mag daran liegen, dass Täler eher ein in sich geschlossenes Ganzes bilden als das sich in alle Richtungen erstreckende und damit grenzenlos erscheinende Flachland.

Erst das neunte von zehn Kapiteln widmet sich ausdrücklich der „Instrumentalmusik“, es ist zudem das kürzeste, während denen über die Texte ein Vielfaches an Raum zugestanden wird. Die Autorin stellt deutsche Schlager wie Zwei kleine Italiener und Griechischer Wein den Sehnsuchtsliedern der Gastarbeiter gegenüber, geht allerdings vor allem vom Text aus und bemängelt im ersteren die Verniedlichung der Fremden, beim zweiten die Fokussierung auf den Weingenuss als verbindendes Element. Hier könnte man auch ein näheres Eingehen auf die musikalische Gestaltung, das Vorkommen von Volksliedelementen, bestimmter Rhythmen, Tonarten usw. eingehen.

Interessant wäre es auch gewesen, zu untersuchen, inwieweit noch das Liedgut, die Musik der aus den Ostgebieten Geflüchteten oder Vertriebenen bewahrt werden konnte oder verloren gegangen ist. Das erscheint auch dadurch erstrebenswert, weil die Verfasserin darstellt, dass erst durch den Verlust derselben der Wert der Heimat erkannt wird.

Weit gespannt ist das Untersuchungsfeld der Autorin, wenn sie auf die nicht mehr verfügbare Heimat zu sprechen kommt. Es reicht von Eichendorf/Schumanns Lied über die schöne Waldeinsamkeit bis zu Johnny Cash, der die Heimat erst im Himmel findet und widmet sich auch Rückert/Mahlers Ich bin der Welt abhanden gekommen.

Oft sieht Wiesenfeldt Heimat verengt auf Haus, Stadt, Mutter und widmet dieser Tatsache ein eigenes Kapitel, in dem es ebenfalls mehr um die Texte als die Musik geht. Mehr den Ausdruck einer Epoche als ein echtes Heimatgefühl sieht sie in den unter „Konstruierte Musikheimat“ zusammengefassten musikalischen Werken, in denen nach Enttäuschungen in der Heimat in der Fremde eine neue Heimstätte gesucht wird. Sowohl Löweballaden wie Sinatras New York, New York gehören für sie dazu, und viel Stoff liefert auch die oft klischeehafte Italiensehnsucht.

In den in einem Dialekt verfassten Heimatliedern sieht die Verfasserin auch das Bestreben nach Ausgrenzung, stellt generell in der letzten Zeit eine Zunahme aggressiver Heimatlyrik fest.

Die Musik als Intensivierungspotential sieht sie besonders in geistlichen Gesängen, wobei Ein feste Burg als besonders ergiebiges Beispiel herangezogen wird, der Eingang in Mendelssohns Elias und Reformationssinfonie eine Rolle spielt. Zitiert wird die Rolle der Musik als „Herrin und Gebärerin“, was vielleicht auch dazu führt, dass in diesem Kapitel ihrer mehr gedacht wird als in den meisten anderen.

 Auf „musikkollektive Praktiken“ wird im 6. Kapitel eingegangen, wozu nicht nur das Choralsingen, sondern auch Fußballgesänge oder ein Glory to Hongkong als Freiheitsbekundung gehören. Auch hier wie bisher bereits wiederholt stellt sich Wiesenfeldt die Frage, inwieweit auch Ausgrenzung Ziel und Ergebnis von Fangesängen oder Chorälen sein kann. Der Frage, ob Heimat oder Nation mehr gelte, besser, welche Bedeutung sie jeweils haben, beschreibend oder sogar heimatstiftend sein können, stellt sich die Autorin im Kapitel , in dem Die Moldau oder „Nordische Musik“ daraufhin untersucht werden. Sie sieht im Freischütz und im Ring eher romantische als Nationalgefühl stiftende Elemente und erwähnt bei den Ausführungen über die Nationalhymnen sogar den peinlichen Good-by- Jonny-Fehltritt der DDR-Hymne. Der Darstellung des Streits um die deutschen Hymnen folgen noch Ausführungen über das Verhältnis von indigenen und europäischen Elementen in den Staaten, die einst Kolonien waren.

Im Kapitel über Instrumentalmusik unterscheidet das Buch zwischen dem Verschmelzen von Fremdem und Eigenem, der Polarität zwischen beiden Elementen oder der feinseligen Bloßstellung des Fremden innerhalb eines Musikstücks. Herangezogen als Beispiele werden Schuberts Einbau von Ländlern oder die Verweigerung von Leitmotiven für Alberich und Mime im Ring, von denen das Buch meint, sie seien als Portraits von Juden gedacht. Darüber lässt sich streiten wie bei Beckmesser.

In der Natur sich selbst finden ist das Merkmal der Pastorale, der das zehnte Kapitel gewidmet ist. Zum Beweis werden der letzte Satz von Haydns letzter in London komponierter Sinfonie, aber auch Gemälde von Caspar David Friedrich herangezogen und schließlich Ombra mai fu und ein kroatisches Volkslied. So überzeugt das Buch durch seine Materialfülle, das immer wieder wahrnehmbare Engagement der Autorin für ihren Gegenstand und die vielen Anregungen, die es dem Leser gibt. Im zweiten Teil finden sich auch viele Notenbeispiele, die die Möglichkeit zum Nachvollziehen des Behaupteten bieten, wodurch die Textlastigkeit des ersten Teils ausgeglichen wird.

Nachwort und Dank, Anmerkungen, Quellen und Literatur, Personen- und Werkregister vervollständigen das Buch.

Ingrid Wanja, 22. März 2025


Christiane Wiesenfeldt: Musik und Heimat

286 Seiten
2025 Bärenreiter-Verlag, Kassel 2025
ISBN 978 3 7618 2658 4