Als Modest Mussorgski mit nur 42 Jahren starb, musste er sein Musikalisches Volksdrama „Chowanschtschina“ unvollendet hinterlassen. Mehrere Komponisten machten es sich zur Aufgabe, das Werk auf Grundlage der nur spärlich vorhandenen, fragmentarischen Skizzen zu orchestrieren und zu Ende zu bringen. Heute ist die „Chowanskij-Schweinerei“, wie der Titel sinngemäß zu verstehen ist, meist in der Fassung von Dmitri Schostakowitsch zu hören, durch Claudio Abbado erlangte auch das dem Ansinnen Mussorgskis wohl näherkommende Chorfinale Igor Strawinskys Aufmerksamkeit. Für die Salzburger Osterfestspiele wurde nun eine gänzlich neue Fassung erarbeitet, die Dokumente mit bisher unbekannten Skizzen zum dramaturgisch hochkomplexen Schluss dieses politischen Musikdramas zu berücksichtigen und so die Orchestrierung Schostakowitschs mit Strawinskys Chorfinale zu vereinen sucht. Doch nicht nur dies gelang mit beklemmender Intensität: Simon McBurneys in der Ästhetik reduzierte, aber gerade darin bildstarke und wirkungsvolle Inszenierung machte deutlich, welch bleibende Aktualität diesem Werk innewohnt.

Vergangenheit in der Gegenwart
Es ist das Jahr 1682, Russland befindet sich nach dem Tod des Zaren Fjodor III. in einer kritischen Situation, in der Sofia bis zur Volljährigkeit der Thronnachfolger die stellvertretende Herrschaft übernimmt. Bald wird sich jedoch die Palastgarde, die von Iwan Chowanskij angeführten Strelitzen, gegen das Zarentum wenden und mittels eines Putsches versuchen, selbst an die Macht zu kommen. Dieser Aufstand, eben jene titelgebende „Chowanschtschina“, bildet den Inhalt der Oper, in deren Mittelpunkt die Frage nach der russischen Nation in ihrer Gewordenheit steht.
Es ist das Drama einer vielfältigen Nation, die in einem ewigen Kreislauf aus politischen Unruhen, Gewalt und vor nichts zurückscheuenden absolutistischen Mächten gefangen zu sein scheint. Wie es dazu kommen konnte, sucht Mussorgski im 19. Jahrhundert mit Blick auf das 17. zu ergründen, und man muss erschreckend feststellen, dass weitere 250 Jahre später nicht nur die Frage unbeantwortet bleibt, da sie innerhalb dieses Kreislaufes nur zurück, nicht aber aus ihm herausführt, sondern auch die Konflikt- und Gewaltbereitschaft der russischen Obrigkeit jenen aus selbst ernanntem Recht weiterzuführen beabsichtigt. „Vergangenheit in der Gegenwart – das ist meine Aufgabe!“ – Diese Worte Mussorgskis prangen vor Beginn der Aufführung auf dem golden glänzenden Eisernen Vorhang und bezeichnen nicht nur seine, sondern auch die Aufgabe all jener, die dieses Werk heute zur Umsetzung bringen, denn es gibt wohl kaum eine andere Oper, in der die erzählte und erzählende Vergangenheit so sehr der Gegenwart ähnelt, jede Gegenwart so stark eine gleichsam vergegenwärtigte Vergangenheit ist.

Beuge dich dem Tratsch und du gibst den Verstand auf!
Es beginnt in völliger Dunkelheit, erfüllt von dumpf dröhnenden, eine bedrohliche Stimmung evozierenden Klängen, bis eine verhüllte Figur wie aus dem Nichts erscheint. Es ist Marfa, eine mysteriöse Frau, Anhängerin der Altgläubigen, Mystikerin – und die einzige fiktive Figur in diesem sich nah an historischen Begebenheiten orientierenden Werk. Als würde sich durch sie das Geschehen erst in Gang setzen, hebt sich der metallene Vorhang auf ihr Zeichen, und tatsächlich kann sie als diejenige verstanden werden, die die Ereignisse aufdeckt, den Blick auf die Wahrheit hinter der von Machtfantasien verblendeten Kulisse freigibt, sogar prophetisch vorhersagt. Sichtbar wird ein prunkvoller Bühnenvorhang, geziert von zahlreichen Doppeladlern und Россия-Schriftzügen. Tatsächlich handelt es sich dabei um den Vorhang des Bolschoi-Theaters – man kann und mag es sich kaum vorstellen, welche „Chowanschtschina“ dort in einem Monat zu den Maitagen, an denen sich vor 343 Jahren der reale Aufstand ereignete, zu sehen sein wird. Auszuschließen ist, dass der sich dort hebende Vorhang einen Blick auf die grausame Wahrheit preisgeben wird, wie es in Salzburg der Fall ist, wo in düsterer Kulisse Leichname, Blut und die dafür verantwortlichen bewaffneten Männer erscheinen. Es sind die Folgen eines grausamen Gemetzels, das die Strelitzen an Angehörigen des Thronfolgers Peter verübt haben. Dessen erinnern sie sich am folgenden Tag mit Stolz, als Schaklowityi, Spion der Zarin Sofia, eintrifft, um einen Schreiber mittels Bestechung zu einer öffentlichen Denunziation des Fürsten Iwan Chowanskij und seiner Truppe zu veranlassen, die als unmittelbare Gefahr für das Zarentum erkannt werden. Obgleich dies nicht gänzlich zu leugnen ist, zeigt sich darin bereits eine Dynamik, die heute in noch weit höherem Maß zu beobachten ist: Mehr als aufrichtige Information über Fakten und Wahrheit zählt die bewusste Streuung von selektiven Informationen, ob diese nun zur Gänze zutreffen oder nicht, ist kaum entscheidend, solange damit nur die beabsichtigte Wirkung, letztlich Manipulation erzielt werden kann.

Ehre sei dem Weißen Schwan…
Iwan Chowanskij tritt in bewusster Inszenierung als brutaler, selbstgefälliger Anführer einer zu jeder Gewalt fähigen Bande auf, der sich als künftigen Herrscher und Retter Russlands sieht. Den Strelitzen schließen sich bald die Altgläubigen an, denn letztlich verfolgen sie dasselbe Ziel. Dosifej, dessen Ablegung seines früheren Namens „Myschezkin“, in dem nicht nur das russische Wort für Maus, sondern auch die Erinnerung an Dostojewskis Fürst Myschkin anklingt, bezeichnende und beunruhigende Bedeutung hat, ist Anführer der Altgläubigen, die die Reformen der offiziellen Kirche ablehnen und sich deshalb von dieser abspalteten. Ihr Selbstverständnis beruht auf der Überzeugung, sie allein würden den „wahren orthodoxen Glauben“ vertreten und müssten nun für seine Bewahrung und darüber hinaus auch seine Durchsetzung sorgen. Damit sind untrennbar politische Machtansprüche verbunden, schließlich ist ihr vorrangiger Gegner die vom Zarentum unterstützte Staatskirche. Diese für eine religiöse Strömung höchst gefährliche Sichtweise macht deutlich, warum die Altgläubigen dem neuen Messias Iwan Chowanskij folgen und dieser umgekehrt ihre religiöse Spaltung für politische Zwecke nutzen möchte. „Chowanschtschina“ ist somit keine Oper über politische Geschehnisse allein, sondern sie handelt wesentlich auch von einem problematischen Verhältnis zwischen Politik und Kirche sowie Absolutheitsansprüchen des Glaubens. Politische und religiöse Motive verstricken sich, es kommt zur religiösen Fundierung, ja Fundamentalisierung der Machtbestrebungen, auf der anderen Seite zur Messianisierung des einen rettenden Führers, die dieser in seine Selbstinszenierung zu integrieren versteht. Chowanskij wird als Weißer Schwan gepriesen, dem allein es möglich sei, Russland zu seiner wahren Größe zurückzuführen. Dabei ist es bezeichnend, dass ein weißer Schwan, neben der vorherrschenden Bedeutung, auch als Symbol für Heuchelei und Täuschung gesehen werden kann, zudem mag aus heutiger Sicht das modernisierte, für Atomwaffen geeignete russische Kampfflugzeug Tupolev Tu-160M, das, als eben solcher bezeichnet wird, als grotesker Zufall ins Auge stechen. In jedem Fall kommen Gedanken an heutige Verhältnisse zwischen russischer staatlicher und kirchlicher Obrigkeit auf.
…doch welcher Herr sei unser Hirte?
Während die nun demselben Ziel zuarbeitende Gruppierung aus Strelitzen und Altgläubigen ihre Machtfantasien pflegt, erhält Fürst Wassilij Golizyn, Berater der Zarin, von Marfa die düstere Prophezeiung seines nahenden Untergangs. Doch ihr sei ein ähnliches Schicksal beschieden wie der trojanischen Prophetin Kassandra, denn Golizyn befiehlt, statt die Warnung ernst zu nehmen, ihre Tötung, vor der sie jedoch die Truppen des Zaren bewahren können. Sich so in Sicherheit wähnend diskutiert er mit Chowanskij und Dosifej die Zukunft Russlands. Obwohl sie ähnliche Ziele haben, finden sie über die Form der Durchsetzung keine Einigung. Chowanskij fordert eine absolutistische Alleinherrschaft, Dosifej eine solche in Gestalt einer Theokratie, die durch einen Rat der Dorfältesten vermeintlich hierarchisch abgeschwächt werden soll. All diesen divergierenden Überlegungen scheint jedoch von oberster Macht ein Ende gesetzt zu werden, denn Schaklowity verkündet die Botschaft, Zar Peter, mittlerweile ebensolcher geworden, wisse von der Verschwörung und fordere die Niederschlagung der seine Macht gefährdenden Gruppen.

Die sprechende Kunst der Andeutung
Für dieses komplexe Geschehen, das zwar auf einer historischen Situation fußt, aber Themen behandelt, die unmittelbar als weit weniger historisch erkannt werden, als sie sein sollten, findet Regisseur Simon McBurney eine reduzierte, teilweise gar abstrahierende Bildsprache, die gerade dadurch umso sprechender wirkt. Innerhalb eines schlichten, aus hohen, beweglichen Wänden bestehenden Bühnenbilds von Rebecca Ringst, ergänzt durch die erwähnten Vorhänge, eine breite Rampe, die durch Rückwand und Treppe für einen gassenartigen Hinterraum sorgt, sowie eine sich im zweiten Akt von oben herabsenkender Plattform, die das Bureau Golizyns darstellt, können sich die Szenen beinahe im Stil eines Kammerspiels entwickeln. Der sparsame Einsatz von Requisiten sorgt für eine Fokussierung auf das Wesentliche, das in der Dynamik der politischen Ereignisse und der Kommunikation zwischen den verschiedenen Gruppierungen und Einzelpersonen liegt. Mit gezielt zur Verwendung kommenden Details und durchdachter Personenregie, die sowohl mit großen Massen als auch intimen Momenten umgehen kann, entstehen eindrucksstarke Bilder, die einmal mehr zeigen, dass es keiner opulent ausgestalteten Kulisse bedarf, um Bedeutung zu transportieren. McBurney gelingt ein fein ausbalanciertes Verhältnis zwischen Darstellung und Andeutung, wodurch die Geschichte klar erzählt, aber nicht so weit ausgedeutet wird, dass weitere Assoziationen, die sich unweigerlich einstellen, verhindert würden. Dies betrifft vor allem den Aspekt der Vergegenwärtigung, die sich in diesem Werk so unmittelbar zeigt, dass die Gefahr bestünde, sie in der Inszenierung allzu deutlich machen zu wollen. Dieser verfällt McBurney jedoch nicht, er belässt es bei unaufdringlichen, dennoch eindeutig wirkenden Anspielungen, ohne je zu konkret zu werden oder das trotz aller Aktualität historische Material mit heutigen Bildern zu überfrachten. Gelegentlich werden einzelne Elemente eingespielt, die klar aktuellen Ereignissen zugeordnet werden können, so zum Beispiel die schamanische Kopfbedeckung eines der Strelitzen, wodurch der Blick auch über Russland hinaus geweitet und deutlich wird, wie sehr die behandelten Konflikte zu einer globalen Krise geworden sind. Im Vordergrund stehen jedoch klare, zeitlos wirkende Impressionen, die beklemmende Atmosphären entstehen lassen. Dabei zieht sich die reduzierte, durchaus nicht schöne, sondern von Gewalt geprägte Ästhetik durch, welche somit auch das Gegenteil, eine verklärte, volkstümliche Darstellung des „großen Russlands“, gänzlich ablehnt. Besonders gelungen ist zudem der die Wahrnehmung des Geschehens maßgeblich bereichernde Einsatz der Beleuchtung (Tom Visser), die für symbolträchtige, durch fortführende Projektionen erweiterte Schattenbilder sorgt, und kunstvolle Videoprojektionen (Will Duke), die manche Szenen in Echtzeit auf die Rückwand übertragen, wodurch vertiefende Perspektiven entstehen.

Rückkehr zum Staub durch das reinigende Feuer
McBurneys beeindruckendes dramaturgisches Geschick, das auch das Publikum nicht nur in die Reflexion, sondern gar in das Bühnengeschehen einbezieht, wird verdichtet zu Beginn des zweiten Teils deutlich, der unvermittelt startet und so den Auftrittsapplaus nicht dem Dirigenten, sondern Schaklowity zukommen lässt. Dieser beginnt sodann eine politische Rede über Zukunftsvisionen für das Großreich Russland voller Machtfantasien und Verklärungen von Unterdrückung und Gewalt, sodass die Applaudierenden bald wie ertappt verstummen. Die Machtergreifung, von der Schaklowity träumt, ist jedoch nicht jene der Strelitzen, welche bald ihren Aufstand als gescheitert erkennen müssen. Chowanskij befiehlt, keinen Widerstand zu leisten, und versucht, seine drohende Niederlage mit Drogen und gekauften Frauen zu verdrängen. Auch hier sorgt die auf der Bühne gefilmte Nahaufnahme der Szene für ein beklemmendes Gefühl, denn durch Kameraschwenk wird das Publikum im Hintergrund sichtbar, das sodann zu Zusehenden und Wissenden von Chowanskijs Belästigungen wird und womöglich daran erinnert werden könnte, in welch hohe politische Ämter verurteilte Sexualstraftäter gewählt werden. Chowanskij erreicht die Amtsübernahme als rettender Alleinherrscher jedoch nicht mehr, Schaklowity dringt unter einem Vorwand in seinen Rückzugsort ein und tötet ihn. Ihres Anführers beraubt, droht den Strelitzen die Hinrichtung, Golizyn wird verbannt. Als jedoch Zar Peter persönlich auftritt – eine Ergänzung dieser Produktion, ursprünglich war die Darstellung des Zaren in einem Bühnenwerk nämlich verboten, die ästhetisch zwar beeindruckend, insgesamt aber verzichtbar war, nicht zuletzt wegen des unausgereiften Gesangs des jugendlichen Darstellers –, begnadigt er die Strelitzen im letzten Augenblick. In der Reaktion Dosifejs wird deutlich, wie stark das vermeintlich religiöse Anliegen der Altgläubigen politisch durchdrungen war und so durch den Tod Chowanskijs hinfällig geworden ist: Er befiehlt die kollektive Selbstaufopferung im Feuertod, um gereinigt aus dieser Welt und in das ewige Reich Gottes zu treten. Ob jedoch ein über den gesamten Rücken tätowiertes Kreuz ausreicht, um vor Gottes Thron die äußerst unchristlichen Machtfantasien rechtfertigen und Erlösung finden zu können, sei dahingestellt. Während die Altgläubigen dem Feuer entgegen ziehen, fokussiert das Geschehen auf Marfa, die ihren ehemaligen Geliebten Andrej, Sohn Iwan Chowanskijs, davon zu überzeugen versucht, sich aufgrund irdischer Hoffnungslosigkeit dem gemeinsamen Tod hinzugeben. Schon im ersten Teil wurde deutlich, wie verworren diese Liebesbeziehung ist, als Marfa das junge Mädchen Emma vor den Belästigungen Andrejs retten und dabei auch seine Untreue ihr gegenüber erkennen musste.
Erst wehrt er sich, in der Meinung, Marfa habe ihn betrogen und alles verdorben, schließlich willigt er in den Flammentod ein, wohl vorrangig angesichts der nun seit der Ermordung seines Vaters bestehenden Perspektivlosigkeit. Das sich langsam entwickelnde, immer bedrückender werdende Finale gehört zu den wohl bildgewaltigsten und berührendsten Momenten der Aufführung. Auch hier zeigt sich die Kunst der Andeutung: Die Trompeten des Zaren werden zu den Posaunen des Gerichts, nur am Bühnenrand flackern schwache Flammen, während von oben, gleichsam aus dem Himmel, Erde auf Marfa und Andrej herabfällt, die die Asche der Verbrannten ebenso symbolisiert wie die Rückkehr zum Staub eines jeden Menschen. Trotz ihrer Verletzung angesichts seines an eine andere – Emma, oder auch die Fantasie von Macht – verschenkten Herzens hält Marfa Andrej bis zuletzt im Arm, erst im verzweifelten Bedecken seines Leichnams mit Erde blitzt ein Funke Wut durch. Wenngleich Marfa als einzige Überlebende erscheint, ist die Bildsprache so offen, dass eine Transzendierung des konkret dargestellten Geschehens hinein in eine andere Welt, in der Sinn und übertragene Bedeutung vorrangig sind, und die Wahrnehmung Marfas als einer das Irdische überschreitenden Figur näher liegen. In ihren letzten Momenten erklingen Verse aus dem 23. Psalm, von bedrohlichen Schlägen und Klanggewalten wie von Kehrversen umrahmt. In dieser Fassung ist das Ende kein laut eskalierendes Fiasko, es ist eine langsam verklingende Litanei des Todes.

Eine gelungene Lösung des Fassungsproblems
Die Besonderheit, der von Gerard McBurney auf Basis der Orchestrierung Schostakowitschs vorgenommenen Bearbeitung ist, neben dem Neuarrangement mancher Stellen, die Ergänzung elektronischer Klänge, die einzelne Teile, vor allem den Strawinsky-Schluss mit der Schostakowitsch-Fassung, verbinden und sich atmosphärisch in die Musik einfügen, weshalb auch weniger von Unterbrechungen zu reden ist als vielmehr von einer die Stimmung, auch Harmonien aufgreifenden Fortführung. Wer eine prinzipielle Abneigung gegen elektronische Klangerweiterungen hegt, wird diese Lösung als Störung empfinden, dabei aber auch missachten, wie fein jene auf das Werk abgestimmt sind und dieses sphärisch erweitern, ohne dabei in die Musik selbst einzugreifen. So überformen die Klangbilder diese nicht, sondern bilden harmonische Pedaltöne und Übergänge, mal in Form von düsterem, apokalyptisch anmutendem Dröhnen, mal als anschwellendes Rauschen wie von Wasser und Wind, bis sie am Ende das grausame Geschehen mit von Mussorgski angedachten Naturklängen kontrastieren. Auf unheimliche und doch Erlösung eröffnende Weise begleitet Vogelgezwitscher das desolate Feld der Verbrennung. Es entsteht ein faszinierendes Ineinander von Orchester und Elektronik, die Harmonien und Leittöne aus der Partitur weiterzutragen versteht, ein Tremolo der Streicher ohne merklichen Übergang aufgreifen oder umgekehrt nahtlos von Musik aus dem Radio zu jener aus dem Graben überleiten kann. Das ermöglicht es, die neu geschaffene Gesamtgestalt als solche wahrzunehmen, ohne störende Brüche erkennen oder eine Verunstaltung der Komposition deklamieren zu müssen, die zumal ohnehin bruchstückhaft und nicht auf eine authentische Fassung festzulegen ist.
Orchesterklang mit nostalgischer Schönheit und brutaler Kälte
Ebenso haben die Klangerweiterungen nicht zur Folge, dass die Aufmerksamkeit vom Orchester abgelenkt würde, stattdessen kann dieses in voller Kraft zur Geltung kommen. Esa-Pekka Salonen bemüht keine Übertreibung oder Exaltiertheit, mit beinahe nüchterner Klarheit widmet er sich dem klanggewaltigen Werk, mit dem er, wie unmittelbar zu merken ist, tief vertraut ist. Die heftigen Kontraste, die sich zwischen wunderschönen, schwelgenden Melodien, volkstümlichen, gar militärisch anmutenden Liedern und erschütternd heftigen Ausbrüchen eröffnen, arbeitet Salonen eindrücklich und unpathetisch heraus. Gerade darin wird aber echtes Pathos möglich, denn die Musik kann in ihrer Vielfalt an Emotionen und Ausdrücken sprechen, ohne dass die intendierte Wirkung allzu sehr übertrieben und somit aufgezwungen wäre. Das Finnish Radio Symphony Orchestra besitzt eine große Wendigkeit, die es ermöglicht, sofort auf Charakterwechsel anzusprechen und alle in diesem Werk vereinten Stimmungen zu transportieren. Beeindruckend ist der warme, innige Streicherklang, der aber nie ins Kitschige verfällt, sondern immer mit einer gewissen bittersüßen Nostalgie unterlegt ist. Nicht weniger beeindruckend sind die Zitate aus volkstümlicher Musik, die den nötigen melancholischen Esprit besitzen, aber auch die monumentalen, durchaus grausamen Fortissimo-Stellen, die den Kreislauf aus Gewalt, der sich auf der Bühne abspielt, im Orchester fortsetzen. Dabei beweisen auch Blech und Schlagwerk eine eindringliche Kraft, die dennoch nie zu martialisch oder überzogen wird. Ebenso hervorzuheben ist das aus Studierenden der Universität Mozarteum bestehende Fernorchester, bei dem besonders die Trompeten mit höchster Präzision und klarem, fast leichtfüßigem Klang hervorstechen. Im Ganzen entsteht eine gerade im Kontrastreichtum harmonische und in sich stimmige Interpretation, die die Gegensätze hervorzuheben, aber in einen Gesamtklang einzubetten versteht. Für Liebhaber der übergroßen Dramatik mag die Grundstimmung etwas zu kühl sein, doch gerade darin liegt eine große Wirkung, die diesem von Kälte und Grausamkeit durchzogenen Stück mehr als gemäß ist. Dem Orchester ebenbürtig ist auch Chor von ungewöhnlich großem Umfang, zusammengesetzt aus dem Slowakischen Philharmonischen Chor und dem Bachchor Salzburg. Mit homogenem, lebendigem Klang werden die hohen Kontraste hörbar, es bleibt durchwegs ausdrucksstark, wodurch vor allem die schiere Gewalt dieser Masse, die in diesem Werk beinahe als Protagonist auftritt, hörbar wird. Das Finale, das wesentlich vom Chor geprägt ist, gelingt in bedrückender Feierlichkeit, es ist der Klang einer dem Glauben illusorisch verfallenen Gruppierung, die auf jenseitige Erlösung nur hoffen kann.

Gute Besetzung mit Glanzlichtern in der Tiefe
Die Besetzung der Solisten mag erfreulich untypisch für die Festspiele erscheinen und erweist sich zum Großteil als äußerst gelungene Entscheidung. Dabei entwickelt sich die Aufführung zu einem Fest für die tiefen Stimmen, denen in dieser Oper nicht nur die bedeutenden Rollen zukommen, sondern die zudem für die gesanglich herausragenden Momente des Abends sorgen konnten. Allen voran sticht Nadezhda Karyazina als Marfa hervor, die in dieser Rolle ein gänzlich überzeugendes Debüt bei den Festspielen feiert. Den in dieser Partie erforderlichen immensen Tonumfang umfasst sie beinahe spielerisch, ihre Stimme gelangt in einen fundierten, kernigen Alt ebenso wie in intensive, klar gesetzte Töne des dramatischen Soprans. Besonders berührend gelingen ihr jedoch die innigen, von Emotionen erfüllten Melodien in mittlerer Lage, in denen ihre Stimme eine Vielfalt an Facetten und Färbungen annehmen kann. Die Wärme ihres Timbres zeigt sich eindrücklich in den zurückgenommenen, leisen Stellen, in denen sie dennoch höchste Intensität bewahren und tiefsten Schmerz ausdrücken kann. Dieser wird auch durch ihre darstellerische Kraft spürbar, die wandelbar ist, sich in der Schlussszene aber in voller Dichte entfalten kann. Ebenso beeindruckend ist Vitalij Kowaljow als Iwan Chowanskij, der diese Figur sowohl charakterlich stark und überzeugend, deshalb durchaus bedrohlich und von Gewalt getrieben, darzustellen vermag, als auch mit kerniger, durch den gesamten Saal reichender Stimme hören lässt. Ain Anger sorgt für einen rauen, charaktervollen Dosifej, der durchaus zu intensiven Stellen mit kräftigem Klang fähig ist, jedoch noch stärkere stimmliche Präsenz hätte bieten können. Beängstigend überzeugt Daniel Okulitch als Schaklowityi mit samtigem Timbre, das sich jedoch durch die nötige Vehemenz zu schneidenden Tönen entwickeln kann, die gerade in ihrer zugrunde liegenden Wärme bedeutungsvolle Kälte ausdrücken kann. Diese wird durch das Diplomatenhafte seines Auftretens, das nur in seiner Rede zu bedrohlicher Leidenschaft aufbricht, verstärkt. Die beiden zentralen Tenöre des Abends bieten eine solide Leistung, reichen jedoch nicht an ihre Kollegen des tieferen Registers heran: Thomas Atkins als Andrej Chowanskij verfügt zwar über eine strahlende, meist präsente Stimme, bleibt jedoch in der Gestaltung zurückhaltend. Matthew White spielt einen passend unangenehmen Golizyn und bietet einige eindrucksvolle stimmliche Momente, oft fehlt es aber an Intensität und Lautstärke, um sich im großen Saal und gegen das Orchester, das eigentlich in der Dynamik sehr feinfühlig auf die Sänger reagiert, durchzusetzen.
Die bleibende Gegenwärtigkeit der „Schweinereien“
Die Frage des Grades und der Art der Vergegenwärtigung eines Opernsujets und somit auch jene, ob etwas durch Aktualisierungen, die oft zu Überformungen mutieren, in die heutige Zeit geholt oder doch ein Inhalt so erzählt werden soll, dass umgekehrt das heutige Publikum sich ihm nähern und dadurch die bleibende Bedeutung in umfassenderem Sinn verstehen kann, stellt sich bei fast jeder Produktion, in besonderer Weise aber bei auf historischen Stoffen basierenden Geschichten. In gewisser Weise muss diese Frage bei „Chowanschtschina“ allerdings gar nicht erst gestellt werden, unvermeidlich ist die Erkenntnis, wie sehr die Grundzüge der Handlung und zahlreiche Verse des Librettos auf heutige Verhältnisse ebenso passen wie auf die erzählten damaligen. Einen Ausweg aus diesem Kreislauf der Gewalt bietet die Oper zwar nicht, jedoch eine eindringliche Warnung, indem sie es ermöglicht, im Blick auf die Vergangenheit erschreckende Tendenzen und Ereignisse auch der Gegenwart zu erkennen. Simon McBurney gelang es, eine Inszenierung zu schaffen, die diese Perspektive unverstellt ermöglicht, sie durch eindrucksvolle, wenngleich reduzierte Bilder verstärkt, jedoch niemals überschreibt, wodurch das Aufgezeigte auch in Andeutungen sprechen und Bedeutung gewinnen kann. Die düstere, brutale, in ihren starken Kontrasten höchst emotionale Stimmung wird von Esa-Pekka Salonen mit dem Orchester und den Sängerinnen und Sängern aufgegriffen und in bewegenden Klängen fortgeführt, sodass eine bedrückend aktuelle „Chowanschtschina“ entsteht, der man auch in Salzburg mehr als zwei Aufführungen wünschte.
Elena Deinhammer, 20. März 2025
Besonderer Dank an unsere Freunde und Kooperationspartner vom OPERNMAGAZIN
Chowanschtschina
Modest Mussorgski
Osterfestspiele Salzburg
Premiere am 12. April 2025
Inszenierung: Simon McBurney
Musikalische Leitung: Esa-Pekka Salonen
Finnish Radio Symphony Orchestra