Lüttich: „Werther“, Jules Massenet

Lieber Opernfreund-Freund,

Jules Massenets wohl erfolgreichste Oper Werther gibt es derzeit im belgischen Lüttich zu sehen. Die berühmteste Opernversion von Johann Wolfgang von Goethes Briefroman präsentiert sich dort als solide Regiearbeit mit durchaus verstörenden Momenten und wird durch die geballte Power der Beteiligten zum stimmgewaltigen Sängerfest.

© ORWL – J. Berger

Das Augenfälligste an der szenischen Umsetzung von Fabrice Muriga sind wohl die Videoeinspielungen, die der Regisseur in vielen seiner Inszenierungen als Stilmittel einsetzt. Auch im Werther lässt er die Sängerinnen und Sänger und teils auch Dirigent und Orchester von Kameraleuten live abfilmen und übergroß und unscharf auf die Szene projizieren. Beim Zuschauen und der Frage nach dem Sinn kommen mir allenfalls die abgemalten, verwischten Fotografien von Gerhard Richter aus den 1960ern in den Sinn, die die Flüchtigkeit der Erinnerungen zeigen. Die zusätzlichen Bilder geben der Inszenierung  etwas Vages, etwas Ungewisses und sollen so wohl für Werthers Innenleben stehen. Sie sind aber in weiten Teilen entbehrlich, zumal die originellen Bühnenaufbauten von Rudy Sabounghi mit ihren engen Räumen, aus denen man, befindet man sich darin, kaum auszubrechen vermag, einen variantenreichen Rahmen zu Erzählung der Geschichte bieten. In diesem Rahmen gelingt Muriga eine bewegte Version der berühmten Geschichte um den unglücklich verliebten Werther, für den es als Alternative zu einem Leben mit Charlotte kein Leben mehr gibt. Dass Fabrice Muriga dabei die Akteure in den hinreißenden zeitgenössischen Kostümen von Marie Hélène Balau dann und wann allzu opernhafte Gesten ausführen lässt, gibt dem Ganzen etwas Gekünsteltes, tut aber der Freude am Zusehen keinen Abbruch.

© ORWL – J. Berger

Gesanglich ist dieser Werther im wahrsten Sinne des Wortes eine Wucht. Der mexikanische Tenor Arturo Chacón-Cruz stemmt sich in der Titelrolle einer der Mörderpartien des französischen Repertoires mit stimmliche Kraft und funkelnden Höhen entgegen und präsentiert vor allem die Arien im zweiten und dritten Akt emotionsgeladen und höchst überzeugend. In den Momenten dazwischen hätte ich mir jedoch bisweilen eine weitere stimmliche Facette gewünscht. Ähnlich ergeht es mir mit der Charlotte von Clémentine Margaine: ihr vor Kraft nur so strotzender Mezzo ist mir ein wenig zu wuchtig für die zaudernde, hin und her gerissene Charlotte, die zwischen Gefühl und Pflicht schwankt, und erinnert mich bisweilen eher an die  Racheschwüre der Amneris. Auch hätte der Interpretation das eine oder andere Piano gut getan  und doch packt mich die Französin mit intensivem Spiel und  einer bei aller Power den Zuschauer dennoch einhüllenden Wärme.

© ORWL – J. Berger

Elena Galitskaya fesselt mich als Sophie mit den klaren Höhen ihres klangschönen Soprans, Ivan Thirion bringt für den Albert – Werthers Nebenbuhler – seinen voluminösen und doch samtigen Bassbariton mit, während mir in den kleineren Rollen vor allem der aus Frankreich stammende Ugo Rabec als Amtmann und Charlottes Vater mit seinem wunderbar raumfüllenden Bassbariton im Ohr bleibt. Als einziger Chor tritt im Werther wiederholt ein Kinderchor auf. Véronique Tollet hat die jungen Sängerinnen und Sänger der Maîtrise exzellent auf ihre Aufgabe vorbereitet und die jungen Akteure begeistern durch lebendiges Spiel auf der Bühne oder festlich-weihnachtlich anmutenden Gesang aus den Proszeniumslogen gleichermaßen.

© ORWL – J. Berger

Im Graben hält Giampolo Bisanti die Fäden zusammen, glänzt mit innigen Interpretationen der Vor- und Zwischenspiele  und präsentiert      Massenets verführerisch-betörende Partitur aus einem Guss. Das Publikum im voll besetzten Lütticher Opernhaus ist am Ende der Vorstellung aus dem Häuschen und feiert vor allem Arturo Chacón-Cruz für seinen so unglaublichen wie überzeugenden Kraftakt.

Ihr
Jochen Rüth

20. April 2025

PS: Ein Blick auf die Seiten der Lütticher Oper (www.operaliege.be) lohnt sich derzeit besonders, denn dort präsentiert die ORWL seit vorgestern ihre Pläne für die nächste Saison: Neben Standards von Mozart und Verdi darf man sich auf Perlen der französischen Opernliteratur von Gounod und Poulenc, einen Ausflug ins Belcanto und einen nach Russland und mit Nino Rotas Cappello di paglia di Firenze auf eine veritable Rarität freuen.


Werther
Oper von Jules Massenet

Opéra Royal de Wallonie-Liège

Premiere: 13. April 2025
besuchte Vorstellung: 19. April 2025

Regie: Fabrice Murgia
Musikalische Leitung: Giampolo Bisanti
Orchestre de l’Opéra Royal de Wallonie-Liège

vorerst letzte Vorstellungen: 22. April 2025