
Nicht allein Vasco da Gama und Cristobal Colon waren skrupellose Menschenschinder. Nike Wagner nannte sie einmal, in einem großen Essay über die Oper, „zynische Ausbeuter der Kolonien“: so wie den Fliegenden Holländer selbst. Woher denn kommt sein ungeheurer Reichtum, den der seit Jahrhunderten über das Meer fahrende Mann mit sich führt? Gewiss aus Blutgeschäften. Nein, auch Wagners Holländer ist, so edel er auch zu singen vermag, kein Gutmensch. Er hat Teil an dem Unglück, das die Weltentdecker seit der Renaissance über die Entdeckten, Versklavten und Ermordeten brachten. Höchstens, dass für ihn spricht, dass er den Fluch der Unerlöstheit von sich abwerfen will, und sei es in der totalen Weltzerstörung. Um dies festzustellen, muss man nicht einmal ein linksradikaler Kolonialismuskritiker sein. Es genügt, sich die historischen Hintergründe anzuschauen, die zwar erst spät, nämlich 1790, verschriftlicht wurde, doch hat die Figur des Fliegenden Holländers schon damals einen ganzen Seemannssack voller Geschichten über die literarischen Weltmeere geschleppt. Heinrich Heine war mit seinem Herrn Schnabelewopski nicht der erste Biograph des bleichen Seemanns. Die Vorgänger von Wagners Wiedergänger haben geräubert, wo es nur ging – in einer der, ja, schönsten wie bedeutendsten Szenen des Abends,, denen man so gut Banalität wie Raffinesse unterstellen kann (beides scheint bisweilen ununterscheidbar), präsidiert Daland als hybrider Wiedergänger eines Inka- oder Aztekengotts über die Masse der verrückten Nutznießer des Kolonialismus. Anno 1550 und 1840 werden plötzlich eins.
Selten (ein Dank an die Maske: Dirk Hirsch und Christine Meisel) sahen die Damen des Nürnberger Opernchors so hässlich-glanzlos aus. Daran kann auch das warme Tropenlicht Franz Tschecks nichts ändern. Kein Wunder, dass die jüngeren und alten „Mädchen“ kaputte Zähne haben. Wer tagtäglich den Zucker in sich hineinfrisst und die einschlägigen Reinigungsstandards missachtet, schaut frontal eben lückenhaft aus. Kommt hinzu eine fahle Gesichtsfarbe, die auf Vitaminmangel hindeutet; dass die Säume ihrer von Adrian Bärwinkel gestalteten Krinolinen sämtlichst so angegraut und verschmutzt sind wie die Wände des Herrenhauses, kommt verschlimmernd hinzu. Die Krinoline hatte ihre Hochzeit seit den frühen 40er Jahren des 19. Jahrhunderts; in eben dieser Zeit schrieb Wagner seinen Holländer, in eben dieser Zeit florierten die kolonialistischen Zuckerindustrien in der Karibik, und zufälligerweise wurde 1840 auch der Zuckerwürfel erfunden. Der Zucker der Kolonialherren war mit jenem Blut getränkt, das Jahrhunderte zuvor von Typen wie dem Holländer vergossen worden war. Anika Rutkofskys Nürnberger Neuinszenierung setzt, in reizvoller chronologischer Parallelisierung, Wagners Oper nun nicht nur in die Entstehungszeit des Werks (das ist herkömmlich), sondern konkret in eine jener Gegenden, in denen die Nachfahren der Titelfigur zu jenen Zeiten ihr Unwesen trieben, die den Komponisten nur wenige Jahre später, doch in Zusammenhang mit dem früheren Stück, dazu animierten, über Ausbeutung und Entfremdung zu schreiben. Die Anzeichen sind ja unübersehbar: Wo die Tauschverhältnisse und Kapitalisierungen des Markts verkaufte Bräute und unerlöste Seefahrer ermöglichen, muss eine spezifisch Wagnersche Erlösung her, da eine Lösung hier auf Erden offensichtlich nicht möglich ist.

Nur Eine bricht aus dem Gefängnis aus, das ihr das Patriarchat des kapitalistisch orientierten Vaters und die Konformität der anderen Frauen auferlegen. Als „Weib der Zukunft“ repräsentiert Senta auch in der Neuinszenierung keine Irre (Wagner selbst hat sie ausdrücklich als nicht irre Figur bezeichnet), auch keine an einem Objekt haftende Wahngestalt. Sie ist tatsächlich eine Frau des 20. Jahrhunderts, Repräsentantin all jener eigenständigen Künstlerinnen, die rund ein Jahrhundert nach Wagners halbfeministischem Entwurf eine neue Kunst erfanden. Man macht also aufmerksam auf Frida Kahlo, auch auf Leonora Carrington, die Lebensgefährtin Max Ernsts und ihrerseits eine höchst originelle Miterfinderin des Surrealismus. Der Holländer, in dem die so genannte Wirklichkeit und die Fantasiegestalten gespenstisch untoter Matrosen aufeinander prallen, ist ja schon eine frühe surrealistische Oper. Ernst Bloch schrieb 1935 den schönen und sinnigen Essay Rettung Wagners durch surrealistische Kolportage; zwar geht es hier nicht um den Wagner-Aficionado Salvador Dalí und um Max Ernst, man mag eher an Max Klingers (alb)traumhafte Collagen denken, aber die Richtung ist dieselbe. In Nürnberg laufen zwischendurch einige fabelhafte und fabelhaft behelmte Figuren aus Carringtons Gemälden, etwa aus Semaine, über die Bühne; man wundert sich nicht, da Senta als Malerin eingeführt wird: als Malerin des berühmten Holländer-Bildes, aber auch als Visionärin grauenhafter Szenen, die sogar die These erlauben, dass sich das Geschehen des dritten Aufzugs in ihrer Fantasie abspielt. Das Gespensterbild – das kann wörtlich genommen werden – steht auf der Staffelei, bevor es als Tableau im 3. Aufzug, also als bewegtes Standbild inszeniert wird: die nicht allein zucker-, auch mentalitätsmäßig geschädigten und seelisch eingeschnürten Spinnerinnen (!) zucken da plötzlich in einem blutigen wie selbstzerstörerischen Psychosentheater herum, das sich in ihren inneren Bedingtheiten und Beklemmungen verdichtet hat, um unversehens zu explodieren. Ist dieser Horrorfilm „logisch“? Im Lichte Freuds et.al besehen: Ja. Ist er theatralisch „sinnvoll“? Wieder Ja – denn die Gespensterszene, die so schwer zu inszenieren ist, weil uns der Glaube an untote Seeleute abhanden gekommen ist und die Regie hier oft absichtlich und unbeabsichtigt versagt, wird nach der Vorstellung der so gut wie uniformen und in den Konventionen des 19. Jahrhunderts steckengebliebenen Frauengruppe des 2. Aufzugs schockhaft gezeigt: So geht’s auf einer gefühlsaktivierenden Hochzeitsfeier zu, wenn man die inneren Gespenster zu lange eingesperrt hat. Eben eine surrealistische Oper. Es geht auch anders, doch so geht es auch. Denn Wagners Wirklichkeitsanalyse erschöpfte sich niemals in platten Realismuszeichnungen.
Mary ist eine höchst beeindruckende schwarze Witwe. Sie heißt Almerija Delic, die kleine Rolle ist eine Wurzen, aber auch sie muss von einer erstklassigen Sängerin interpretiert werden. Oft werden dafür altgediente Vokalistinnen eingesetzt, das klingt oft fürchterlich. Almerija Delic aber macht das stark und dominant, man glaubt ihr die Lust an der Zucht der Anderen. Das Lied der Spinnerinnen ist das, was es auf den Bühnen oft ist: uneigentlich, ein Zitat, ein Volks- oder Kunstlied, das man eben so singt, aber im Text steckt, warum die Damen es auch immer singen, eine tiefe Wahrheit: den Mann bekommt nur die, die, wie alle anderen und nicht anders, „fleißig“ ist, damit der ihr das Geschmeide gebe, das auf dem Acker der Ausbeutung gepflanzt wurde. Eine der Frauen, gleich vorne links, mag da nicht mehr hinschauen – und präsentiert ihre ausgestochenen Augen wie die Heilige Ottilie dem Publikum. Wen wundert’s, dass die Frauen in einer hellen wie schwarzen halben Stunde aus dem Korsett ausbrechen, das ihr starke und ihrerseits domestizierte Donnas wie Mary gezurrt haben? Die Dramaturgin Wiebke Hetmanek macht aufmerksam auf die fantastisch-realistischen Welten eines Gabriela Garcia Márquez, in denen auch Familienmitglieder wie Mary zuhause sind. Eine Nebenfigur? Ja, aber eine im Sinen Goethes bedeutende. Die Delic füllt sie, vokal und gestisch, vollkommen aus; es ist ein einziges Vergnügen.
Etwas erinnert in dieser Inszenierung an Bayreuth. Das Daland-Schiff hat tatsächlich eines mit dem Tristan-Schiff der Festspiel-Inszenierung des letzten Jahres gemein: die Skeletthaftigkeit. Es stimmt ja: Man muss nicht, wie in Leipzig, den kompletten Schiffsbug in den Zuschauerraum fahren lassen, damit die Leute kapieren, womit man es zu tun hat. Andeutungen genügen, weniger ist bekanntlich oft mehr. Julius Theodor Semmelmann hat einen Kunstraum entworfen, der zwischen dem Überrealismus einer von Senta erträumten und gesehenen Welt und dem changieren, was wir uns unter „Realität“ vorstellen. Projektionen fantastischer Meeresungeheuer ergänzen das gebaute Bild, das zwischen dem ersten und zweiten Aufzug sich so schnell verwandelt, also abgebaut wird, dass manch Zuschauerin es nicht mitbekommt. Genau hier fängt die Kunst vielleicht an: wenn Verwandlungen unmerklich über die Bühne gehen. Senta malt ebenso das erste Bild – das Schiff mit dem Kapitän in der Mitte und den Matrosen an Bord – wie das letzte: den Ausbruch des Chaos. Im Hintergrund, in der karibischen Landschaft, wechseln sich die Bilder ab: von der zart ausgemalten (!) Landschaft des Südens zu den Traumeinblicken, in denen die Fische durch die Luft fliegen. Ein Hoch auf die Technik, das Licht und die Malerei – und die Übergänge. Was sanfte Übergänge sind, muss man einem Wagnerianer ja nicht erklären. Kein Übergang, sondern ein regelrechtes Ausstreichen aber ist der Schluss. Senta, desillusioniert nach der Psych-Orgie des letzten Bilds, bleibt nur noch die totale Übermalung des gesamten (Bühnen)-Bilds; Inszenierung und Gemälde waren eins und werden nun wieder, das ist die Freiheit der Künstlerin der Gegenwart, eliminiert. Das Bild (des imaginierten Mannes) entsprach nicht der Vorstellung, also kann es zerstört werden. Der Rest ist Sentas Schrei, ein letztes Lachen – aber ist es das Lachen des Wahnsinns oder der Befreiung? Wir erfahren es nicht. Auch diese „Erlösung“ bleibt zwiespältig, wenn auch emanzipativ. Wir hören übrigens den Schluss wie die Ouvertüre in der zweiten Fassung, also den „Erlösungs-Schluss“ mit Harfe. Das macht die Sache zumindest etwas klarer; die Frau geht vielleicht in ein anderes Leben – eines ohne enttäuschende Fantasiegebilde.

Der Holländer ist sehr alt, er bleibt es auch. Jochen Kupfer spielt den Mann nach Vorschrift: als Gestalt einer Vergangenheit, deren Folgen lange nachwirkten, laut Wagner (Werktreue!) in der schwarzen spanischen Tracht der Konquistadores. So irrt er wie ein surreal gewordenes Überbleibsel aus der Vergangenheit im Irrgarten der Gegenwarten Wagners und der jüngeren Epochen über die Bühne. Wer mir jetzt mit „Realismus“ kommen will: siehe oben; Oper ist niemals realistisch oder was man so nennt, und kaum eine andere Wagner-Oper, denke ich, birgt so viele verschiedene funktionierende Interpretationsmöglichkeiten, weil sie immer nur einen Teil des erstaunlich vielfältigen Stoffs bearbeiten können. Jochen Kupfer also spielt und singt den Mann, er macht’s als Bassbariton, was eher ungewöhnlich für Kupfer ist, und er macht’s mit noblem Klang und, bei aller äußeren Ruhe, mit (Vibrato!) dramatischer Anteilnahme. Er ist definitiv schlanker als der Mann auf den Gemälden, die „den“ Typus Welteroberer der Dürer-Zeit abkonterfeit zeigen. Nämberch! Das Germanische Nationalmuseum ist nur einen Katzensprung vom Opernhaus am Ring entfernt, dazwischen liegt nur Tuchers Gaststätte. Waren die Tucher nicht auch im Welthandel tätig? Ach, lassen wir das… Kupfer also ist ein Zentrum des Abends, vielleicht sogar, neben dem hervorragenden Chor, das vokale Zentrum, obwohl oder vielleicht weil er so exterritorial über die fremdartige Bühne stromert. Er ist auch vokal von großer Güte, was von der Senta der Anna Gabler leider nicht behauptet werden kann, die sich, zunehmend angestrengt, durch den Abend arbeitet und unschöne Höhentöne produziert, die nicht einmal bei einem „Weib der Zukunft“ passend sind. Schade drum.

Taras Konoshchenko ist ein guter und komödiantisch aufgelegter Daland, der mit Stimme und Körper den geldgierigen wie durchaus sympathischen Kerl gut charakterisiert, bis sein Gesicht unter der goldenen Maske verschwindet, wo es quasi zur Kenntlichkeit entstellt wird. Wie gesagt: ein starkes Tableau, mit Daland in der Mitte. Der halbglatzige Steuermann, ein Bild von einem von einem leicht zerrupften, von der immerhin ein wenig revoltierenden Matrosenmannschaft angegangenen Menschen der Epoche der Ausbeuter, ist Hans Kittelmann, dessen direkt fokussierende und gelind aufgeraute Stimme zu den Aktionen passt, mit denen er, quasi historisch verbürgt, die Matrosen malträtiert. Merke: Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, auch böse Steuermänner haben schöne Lieder.
Christoph Strehl ist Erik; der lyrische Tenor, der seine Karriere u.a. im nahen Theater Hof begann, wo er in den 90er Jahren sensationell auffiel, was die Vita auf seiner Homepage seltsamerweise verschweigt, Strehla also ist immer noch ein guter lyrischer Tenor, dessen Organ (aufgrund des Lagrimoso) ganz von Fern an das des Rudolf Schock erinnern mag, wenn seine Stimme auch an Durchschlagskraft verloren hat. Großer Beifall auch für ihn – und den Chor des Staatstheaters Nürnberg, der, so bizarr auch die Damen aussehen mögen, unter der Leitung von Tarmo Vaask wieder zeigt, wie ein Opernchor zu singen hat. Getragen wird das Alles von der Staatsphilharmonie Nürnberg, deren GMD Roland Böer sehr gut weiß, wie man das Orchesterschiff durch die akustischen Fährnisse des klanglich schwierigen Hauses zu führen hat, ohne die Tempi zu verhetzen, es mehr als nötig krachen zu lassen und sich auf Details auszuruhen, die man auch bei „normaler“ Geschwindigkeit gut hören kann, wenn die Stimmen sich nicht überlagern, sondern solistisch begleiten. Wenige polyphone Takte werden sich noch, aber das ist jetzt wirklich beckmesserisch, nach der Premierenvorstellung noch zurechtruckeln. Es genügt, dass man vom Brausewind und den lyrischen Emphasen der Meisterpartitur so fortgeschwemmt wurde, dass irgendwann die Kritik an den kolonialistischen Triebtätern vom Großhirn abgelegt wurde, weil die Musik und das Theater denn doch stärker sind als die historische Erläuterung defizitärer Zustände.
Starker Beifall – für das gesamte Ensemble.
Frank Piontek, 19. Mai 2025
Der fliegende Holländer
Richard Wagner
Staatstheater Nürnberg
Premiere: 17. Mai 2025
Regie: Anika Rutkofsky
Dirigat: Roland Böer
Staatsphilharmonie Nürnberg