Zu einer äußerlich eigenständigen, abstrakten und recht ästhetischen Angelegenheit geriet die Neuproduktion von Verdis Otello an der Staatsoper Stuttgart. Modern, gleichzeitig aber sehr schön anzusehen, präsentierte sich diese Neudeutung des Mohren von Venedig, was am Ende in großen Zuspruch des zahlreich erschienenen Publikums mündete. Regisseurin Silvia Costa, die auch für das gefällige Bühnenbild verantwortlich zeichnete, und die Kostümbildnerin Gesine Völlm haben insgesamt gute Arbeit geleistet. Das Ganze spielt in einem klinisch kühlen, nach vorne hin offenen weißen Kasten, in dem sich die Handlungsträger wie in einem tableau vivant bewegen. Farben sucht man in diesem Ambiente vergebens. Sowohl die Bühne als auch die Kostüme sind in einfache Schwarz – Weiß – Töne gehüllt, wodurch die Fokussierung auf die beteiligten Personen noch verstärkt wird. Dieses Spiel mit Schwarz und Weiß kann man durchaus als den Kampf des erfolgreichen, aber ausgeprägtem Rassismus seitens der weißen Venezianer ausgesetzten dunkelhäutigen – hier weißen – Heerführers Otello verstehen, was indes nicht unbedingt erforderlich ist. Es prallen hier unterschiedliche Dynamiken aufeinander, was eine Intensivierung der ästhetischen Ausrichtung dieser konzeptionell gelungenen Regiearbeit zur Folge hat. Nachhaltig wird die Frage aufgeworfen, was Realität und was der Phantasie entsprungen ist. Der Projektionsgedanke spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Alles in dieser Produktion ist in irgendeiner Form eine Projektion. Einfühlsam spielt die Regisseurin und Bühnenbildnerin mit Hell und Dunkel. Desdemona ist die einzige Person, die nicht in Schwarz-Weiß erscheint. Sie stellt die Lichtgestalt in diesem Stück dar, der eine besondere Behandlung seitens der Regie zuteil wird. Bemerkenswert ist, dass sie zu guter Letzt daran zu zweifeln beginnt, dass es sich bei Otello um einen guten Menschen handelt. Hat sie den richtigen Mann geheiratet?

Zentrale Relevanz kommt in dieser Inszenierung den Symbolen zu. An erster Stelle ist hier der Ring zu nennen, der einen Ehering symbolisieren soll. Ebenfalls eine große Bedeutung kommt bei Frau Costa der Perle als etwas überaus Kostbarem zu, das die Regisseurin als Heiligenattribut verstanden wissen will (vgl. Programmheft S. 24). Und dann natürlich das Taschentuch, dem Auslöser von Otellos eifersuchtsbedingter Mordtat an seiner Frau.
Der erste Akt wird von einer Statue und einem Rad dominiert. Den Sinn des Rades verrät Silvia Costa auf S. 24 des informativen Programmheftes: Sie hat nach etwas gesucht, womit die Skulptur zu Fall gebracht werden könnte, um den Mechanismus zu zeigen, nach dem Otello im Stück behandelt wird. Abdrücke des destruktiven Rades sieht man später auch auf Otellos Kostüm. Das ist eine durchaus gelungene Symbolik. Interessant ist zudem die Einbeziehung der vier Elemente in das tragische Geschehen. Der erste Akt wird vom Wasser dominiert. Das stürmische Wasser macht Otellos Schiff schwer zu schaffen. Bei der Trinkszene strömt das kühle Nass aus einem Brunnen. Im zweiten Akt steht die Erde im Vordergrund. Jago formt an einer Töpferscheibe aus Erde Lehmklumpen, die er dann aber gleich wieder zerstört. Auf diese Weise kehrt er symbolisch den Schöpfungsakt um. Die Erde ist es auch, auf der Desdemonas Blumen wachsen. Im dritten Akt lodert das Feuer der Eifersucht in dem auf Jagos Intrigen hereingefallenen Otello heiß auf. Im vierten Akt lässt sich Frau Costa von der Luft leiten – der Luft, die durch die Zweige der von Desdemona besungenen Trauerweide weht. Und am Ende nimmt Otello seiner Frau die Luft zum Atmen.

Bemerkenswert ist, dass Otello und Desdemona in dieser Inszenierung keine gute Ehe führen. Niemals kommen sie richtig zusammen und gehen fast immer auf Distanz zueinander. Um hier die Wogen etwas zu glätten, hat ihnen Silvia Costa zwei Schattenfiguren zur Seite gestellt, die die Gefühle von Otello und Desdemona ausleben und dabei oft stark auf Tuchfühlung gehen. Sie tun mithin genau das, was den Sänger-Figuren verwehrt ist. Auch am Ende sind diese beiden dunklen Gestalten präsent. Zuvor sind Otello und Desdemona beide einen symbolischen Tod gestorben. Sie legt sich ein überdimensionales Taschentuch über den Kopf und verharrt still und regungslos an der Rampe. Otello tut es ihr gleich, nachdem er zuvor drei Kopfkissen zu einem Paket zusammengeschnürt hat. Erst ganz am Ende bricht das Ehepaar dann leblos zusammen. Das war ein starkes Bild. Insgesamt hat die Regisseurin mit ansprechenden visuellen Impressionen nicht gegeizt. Ein Höhepunkt ihrer Deutung war der Augenblick, als Otello seinen Kopf auf Jagos Schenkel bettet und von ihm wie im Schlaf die Verleumdungen eingeflüstert bekommt. An einer anderen Stelle beginnt der wohl auf Kothurnen gehende Jago auf einmal kolossal zu wachsen. Das Bild im zweiten Akt mit den umgekehrt vom Schnürboden herabschwebenden Kreuzen, den Blumen sowie den unter Desdemonas ausladendem Umhang hervorkommenden Kindern wirkt indes etwas kitschig.

Erwähnenswert ist ferner, dass Frau Costa nicht allein für die Inszenierung verantwortlich ist. Sie hat sich den Video- und Klanginstallateur John Akomfrah mit ins Boot geholt. Er bereicherte die Inszenierung um einige gefällige Videoinstillationen, die den einzelnen Akten vorangestellt wurden und auf den ersten Blick auf eine postkoloniale Ausrichtung der Inszenierung verwiesen. Eine solche hat die Regisseurin indes ausgespart. Ihr geht es mit diesen Videos vielmehr um die Aufzeigung von Otellos Identität und um eine Änderung des Blickwinkels. Zuerst erblickt man einen schwarzen Mann an einer Küste, sodann eine Frau in einer Steinlandschaft. Vor dem dritten Akt wartet Herr Akomfrah dann mit Anspielungen auf den amerikanischen Rassismus und auf die Black Lives Matter – Bewegung auf. An dieser Stelle wird deutlich, wie unbeliebt Schwarze in Amerika sind und wie auch Otello unter der rassistischen Einstellung der im dritten Akt oratorienhaft erstarrten Venezianer zu leiden hat. Diese Video-Interventionen versteht Silvia Costa nicht als Kommentar, sondern als Parallelstrang, der ein Reflexionsangebot eröffnet (Programmheft S. 20). Mit jedem Akt beginnt eine neue Welt. Mit diesem Ansatzpunkt der Regisseurin kann man leben. Die Personenregie hätte aber noch etwas ausgeprägter sein können.
Dirigent Stefano Montanari wies dem intensiv aufspielenden Staatsorchester Stuttgart mit sicherer Hand den Weg durch Verdis Partitur. Die vielfältigen musikalischen Strukturen des Werkes wurden von ihm gekonnt offengelegt, wobei der Gegensatz zwischen lyrischen und dramatischen Passagen einfühlsam betont wurde. Leider sprang der sprichwörtliche Funke an diesem Abend nicht über und Montanaris Dirigat verlor sich etwas im Beliebigen. Schade.

Von den Sängern ist an erster Stelle Daniel Miroslaw zu nennen, der den Jago phantastisch sang. Der junge polnische Bariton verfügt über eine ungemein wohlklingende, bestens italienisch fokussierte, sonore und ausdrucksstarke Stimme, mit der er jede Facette des intriganten Bösewichts zog und dem er insgesamt mehr als nur voll gerecht wurde. Von diesem absolut genialen Sänger wird man in Zukunft noch viel erwarten dürfen. In nichts nach stand ihm Olga Busuioc, die für die erkrankte Esther Dierkes als Desdemona eingesprungen war, und das Publikum mit einem ebenfalls herrlich italienisch fundierten, warmen und gefühlvollen sowie zur Höhe hin schön aufblühenden Sopran zu Begeisterungsstürmen hinriss. Ihre zarten Piani und ihre ebenmäßige Linienführung zeugten ebenfalls von dem hohen vokalen Niveau dieser famosen Sängerin. Einen in der Mittellage etwas herb anmutenden, in der Höhe dagegen voll und rund klingenden hellen Tenor brachte Marco Berti in die Rolle des Otello ein, die er insgesamt auf beachtliche Art und Weise meisterte. Einen volltönenden, kräftigen Bass nannte Goran Juric in die Partie des Ludovico sein Eigen. Stimmlich expressiv gestaltete Itzeli del Rosario die Emilia. Von Aleksander Myrlings profundem Montano hätte man gerne mehr gehört. Tadellos gelangen Kyung Won Yu die wenigen Worte des Herolds. Nicht zu überzeugen vermochte Sam Harris, der den Cassio sehr flach und bar jeder soliden Körperstütze der Stimme sang. In gleicher Weise sehr maskig klang Alberto Roberts Rodrigo. Auf hohem Niveau bewegte sich der von Manuel Pujol einstudierte Staatsopernchor Stuttgart. Die Vorbereitung des Kinderchores der Staatsoper Stuttgart lag in den Händen von Bernhard Moncado.
Ludwig Steinbach, 26. Mai 2025
Otello
Giuseppe Verdi
Staatsoper Stuttgart
Besuchte Aufführung: 25. Mai 2025
Premiere: 18. Mai 2025
Inszenierung: Silvia Costa
Musikalische Leitung: Stefano Montanari
Staatsorchester Stuttgart