12. Juli Zwanzigfünfundzwanzig – bis zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele sind es keine zwei Wochen mehr hin. Man merkt‘s auch daran, dass im Wagnermuseum eine Sonderausstellung eröffnet und zwei Stunden später in Steingraebers Hoftheater ein neues Wagnerstück von Uwe Hoppe herauskommt. Dreht sich die Schau um Wagner-Karikaturen, also um latent Parodistisches, so haben es Uwe Hoppes Wagnerparaphrasen schon lange nicht mehr mit lustigen Dingen zu tun. Die Zeiten sind vorbei, wo man den Ring des Nibelungen zur Grundlage von „verjuxten“ (O-Ton eines Zuschauers) Versionen von Wagners Götterweltuntergangsdrama nehmen konnte. Dem neuen Ring – es ist bereits der sechste, der seit 1982 von Hoppe geschrieben und inszeniert wurde – mangelt es zwar nicht an Witz, doch an den Wonnen, die Utopien naiverweise zu entfesseln vermögen.
Der Meister des Holzschnitthaften und gelegentlich Subtilen nennt‘s: „Der Ring rebooted“. Wenn man bereits fünf Tetralogie-Varianten auf die Bühne gestellt hat, wird die 6. zur Variationsvariation; viele mittlerweise bekannte Textzeilen ziehen sich seit 44 Jahren durch das Hoppesche Ring-Oeuvre. Es sind zumeist die Kraftworte, die im Gedächtnis bleiben („Schauze, Schlampe!“ gehört im Munde Hundings noch zu den relativ Harmlosen), und so zieht der Abend, rein textlich betrachtet, für den Hoppe-Ring-Kenner wie eine Folge von Reminiszenzen an unseren Ohren vorbei. Es beginnt tatsächlich wie eine jener nur durch wenige interpretatorischen Erweiterungen sich auszeichnende Nacherzählung im absoluten Zeitraffer, die die Sache für manch wirklichen Wagner-Kenner interessant machen könnte. Unkundige Ring-Besucher dürften große Schwierigkeiten haben, der höchst verkürzenden und bisweilen wie abgehackt scheinenden Readers-Digest-Story zu folgen. An wenigen Stellen werden im Übrigen völlig schlüssige Aktualisierungen vorgenommen, die Wagners Verse und Versübersetzungen um die Gegenwart erweitern. Im unauflöslichen Gespinst von Märchen und Moderne, Mythos und (Hoppescher) Manie glitzert es manchmal betont aktualisierend auf: Wenn Alberich, zum Industriellen emporgeschwungen, in drei Minuten in einem Telefonmonolog das grausige und leider wirklichkeitsnahe Bild eines Turbokapitalisten abgibt, der nach dem Motto „Nach mir die Sintflut“ agiert weil er sich um Lithiumvorkommen und Wasser-, doch nicht um Menschenrechte kümmert, wähnt man sich in einem Nebenraum von Jay Scheibs Bayreuther Parsifal-Deutung. Das Alles ist nicht übertrieben, sondern kritisch an der richtigen Stelle – und zugleich platt. Die ausgebeutete und von den Menschen vergessene Erda: das Bild ist so richtig wie theatralisch, weil‘s nur das Naheliegende reproduziert, nicht recht ergiebig, wenn auch gutes Bildertheater.
Doch seltsam: Mit dem zweiten Teil gewinnt der mit zweieinhalb Spielstunden, also rheingoldhafter Länge ausgestattete Abend an Tiefe. Je mehr sich Hoppe vom Urtext entfernt, desto interessanter wird seine neue Vafriante. Gewiss: in Teil I sorgten Zwischenszenen, die das von Wagner nur Erzählte ausführen (Alberichs Handel mit Königin Grimhild, der Auftritt von Siegmunds und Sieglindes Mutter), für einen schönen Mehrwert. Im zweiten Teil verzichtet Hoppe an bedeutenden Stellen auf Paraphrasen; die Wissenswette wird zur Abrechnung mit dem Menschen, nicht zum mythologischen Quiz, Alberich schlecht, wie einst in Jürgen Flimms Bayreuther Siegfried, bereits im Siegfried mit Hagen über die Bühne, um ihn einzuschwören, Waltraute plaudert als Stimme einer Waldvogelattrappe im Auftrag Wotans mit Siegfried, und Wotan geht im Gefecht mit dem „Helden“ auch seines zweiten Auges verlustig. Seine Blindheit, man sieht‘s, ist nun vollkommen, obwohl er doch zuvor einige lichte Momente der Klarheit über sein Tun und das Tun der Menschen hatte. Hoppes Konstrukt funktioniert plötzlich jenseits einer bloßen und nicht sonderlich sinnerweiternden Nacherzählung.

Das Ende ist, wie immer bei Hoppe, noch rasanter als Alles, was zuvor über die Bühne fegte. Hagen macht Tabula rasa, bevor alle, aber auch wirklich alle, tot am Boden liegen. „Jeder erschlägt jeden. Alle tot, bis auf Brünnhilde“, wie es im Textbuch heisst. Nur Erda, die Geschändete, bleibt nach Brünnhildes ruhigem Dahinsterben (mit großer Schlussrede) selig lächelnd übrig, denn aus dem Bodennebel wachsen plötzlich wieder, zu Wagners auratischen Finalklängen, die einmal so etwas wie eine Hoffnung auf die Wiederherstellung der Integrität der Erde ausdrücken sollten, einige Sonnenblümchen. Es wird partiell gelacht, irgendwer hat das Stück verstanden. Natürlich: Das Bild ist „Kitsch“, aber in Wahrheit ist es ernüchternd. Erst, wenn der letzte Mensch sich selbst so vernichtet haben wird, wie man die letzten Vertreterinnen der Aufklärung, die Nornen, geblendet und exekutiert hat, wird die Erde wieder heil werden. Dazu bedarf es freilich des Verschwindens der Menschen. Hoppes Stück ist, der Text macht das unmissverständdlich klar, radikal pessimistisch, oder anders: radikal realistisch. Wer will bezweifeln, dass seine Interpretation des Wagnerschen Ring-Schlusses von der Wirklichkeit entfernt ist, für deren Analyse man keine zehn Semester Biologie studiert haben muss? Im Ring der Niederungen hielt Hoppe uns Betroffenen und Betreffenden noch buchstäblich den bezeichnenderweise aus Scherben zusammengefügten Spiegel sehr bewegend vor. Im „Ring rebooted“ verzichtet er darauf, weil der Mensch – ein Blick in die Zukunft – einfach nicht mehr der Ansprechpartner ist: nicht einmal dann, wenn zwischendurch auch mal – im Hoppeschen Theater! – eindringlich geflüstert wird.

Ist das platt, einschichtig, undialektisch? Gewiss, aber es ist, leider, auch naheliegend. Während Hoppe das Naheliegende zunächst noch so erzählt, dass der Ring-Kenner nur selten davon abkommt, mit den Worten immerzu das Original, also Wagners Musik zu hören (die angenehm- und interessanterweise diskontinuierlich eingespielten Musikfetzen werden sparsam über den Abend verteilt), befreit sich der Autor schliesslich zusehends von den dramaturgischen Vorgaben. Er macht in Teil II ein von vielen Opernbesuchern denunziertes und also vom Historismus befreites „Regietheater“ (ein Kampfbegrifff, kein sachlicher Terminus), um zu einer kreativen, also wirklich interpretatorischen Form zu gelangen. Das ist gut und schön, auch wenn sich‘s um durchwegs Unschönes dreht. Am Ende aber ist dieser Ring, mit seiner Wagnerscheibe, einer von Hoppe entworfenen Baumholzbühne (die gefällte Weltesche: noch so ein Interpretationsangebot), nicht zuletzt ein immer wieder eindrückliches Bildertheater, geformt aus und von den Akteuren. Den mal mehr, mal weniger holzschnitthaften Text zu hören und im Programmheft zu lesen ist eins, auf die Szene(n) zu schauen, etwas völlig Anderes, denn hier, erst hier, entsteht oft das wirkliche Theater, auch wenn Hoppe als sein eigener Regisseur nicht auf die Faszinationsfähigkeit des Publikums spekuliert und darauf verzichtet, die fantastischen Verwandlungsszenen und Wagnerschen Bühnenzaubereien besonders illusionistisch zu gestalten. Für den „Feuerzauber“ genügen ja die beiden rotglühenden Lichtstäbe an den beiden hinteren Seiten der kleinen Bühne, so wie das gemeinsam angestimmte Der Winter ist vergangen, durchaus poetisch, für den Zauber der dem Wonnemond weichenden Winterstürme einstehen kann. Und der Bühnennebel, der schon die flippig-modernistischen Rheintöchter-Girlies umwabert, ist ja auch ganz schön.
Gerettet wird der Premierenabend von Lucas Stühle, der, mit dem Textbuch in der Hand, den Siegfried spielt. Hoppe sprang auch als Fasolt ein, denn auch diese Rolle musste umbesetzt werden, weil der Spieler des Siegfried auch Fafners Bruder und Grimgerde zu spielen hatte. „Mut zur Lücke“, dieser improvisierte Textausstoß inmitten einer Siegfried-Mime-Szene erntet am Abend den größten Lacher – und Szenenapplaus.

Ansonsten spielen sie so stringent und deutlich, wie es der Text mit seinen kurzen und manchmal gewitzten Sätzen verlangt: allen voran Jürgen Skambraks als Wotan, dann Oliver Hepp als Loge und Hagen, Frank Joseph Maisel als Alberich, Annette Zeus als Brünnhilde, Conny Trapper als Fricka, Julian Krumm als Siegmund, Tillmann Hamel als extrem nerdiger Mime, Anne Christoph als Sieglinde, Maria Weber als Gutrune, nicht zuletzt Michaela Proebstl-Kraß als Erda und all die anderen Mehrfachspielerinnen der Rheintöchter, Walküren und Nornen: Jeanne Pasewald und Anne Christoph – in summa ein Ensembletheater. Sie alle werfen sich mit Kraft in die möglicherweise letzte Hoppesche Ring-Variante – denn was kann nach so einem Finale noch kommen?
Der Vorhang zu und keine Fragen offen? Bedauerlicherweise: ja. Aber die Festspiele fangen ja, wie schön, erst noch an.
Frank Piontek, 13. Juli 2025
Der Ring rebooted
Uwe Hoppe
Studiobühne Bayreuth in Steingraebers Hoftheater
Premiere: 12. Juli 2025