Festspielhaus, 31.8. 2022
Er sieht von fern ein wenig aus wie der erste Konzertmeister der Bayreuther Festspiele. 1876 saß der berühmte Violinist August Wilhelmj am Pult der ersten Geigen, heute heißt der Musiker Juraj Cizmarovic. Doch anders als damals sitzt das Orchester an den beiden letzten Abenden der Bayreuther Festspiele 2022 nicht im Graben, sondern auf der Bühne, um ein Konzert mit Andris Nelsons zu veranstalten – und mit zwei Sängern, die in diesem Sommer weit weniger beschäftigt waren als ein Stephen Gould, der es nicht mit „nur“ einer, sondern gleich mit drei Hauptrollen zu tun hatte.
Die Frage, ob Wagner selbst diese Präsentationsform seiner Stücke, genauer: von „Bruchstücken“ (wie der Terminus damals lautete, als er selbst noch solche Sachen veranstaltete), goutiert hätte, ist leicht zu beantworten: er hätte sie gehasst – denn als er in mehreren Konzerten vor und nach den ersten Festspielen Ausschnitte aus dem Tristan, den Meistersingern und dem Ring dem Publikum kredenzte, tat er‘s, um 1. Geld zu verdienen und 2. dem Publikum mit Hilfe der populärsten Fragmente die großen Werke nahe zu bringen, bevor sie selbst das Licht der Bühnenwelt erblickten. Als er 1877 nach London reiste – Wilhelmj war damals übrigens wieder als Konzertmeister dabei –, galt es, das Defizit der ersten Festspiele auszugleichen. „Lassen Sie mich über meine Abneigung gegen Bruchstück-Vorführungen in Concerten nichts weiter sagen!“, schrieb der Komponist am 9. Oktober 1875 an seinen späteren Parsifal-Dirigenten Hermann Levi – damit ist alles gesagt.
Nun ist das gegenwärtige Publikum, das mit den Werken Wagners vertraut ist, ganz anders gestimmt als das der Wagner-Zeit. Diesmal sitzen wesentlich mehr Bayreuther Ureinwohner als gewöhnlich im Festspielhaus; man macht, um es despektierlich und überpointiert auszudrücken, gleichsam Festspiele für Arme. Natürlich: ein best of aus drei Opern ist leichter verdaulich als eine Götterdämmerung, zudem dann, wenn sie von einem bösen Buben inszeniert wird, der sich doch glatt das Recht herausgenommen hat, das Werk aus seiner persönlichen Sicht zu interpretieren, ohne vorher politikwissenschaftliche Wagnerdeutungen studiert und verinnerlicht und die „besten“ Inszenierungen der letzten 50 Jahreanalysiert zu haben, an die gewiss noch manch Langzeitbesucher der Festspiele denkt. Ein Konzert bietet nicht mehr als das, was es sein soll: eine Suite von musikalischen Höhepunkten, die, auf der Bühne zelebriert, völlig anders klingen als sonst. Darum ist schon der Klang fast erschreckend, der uns mit der Holländer-Ouvertüre entgegendröhnt, mag auch Andris Nelsons zusammen mit dem Orchester der Bayreuther Festspiele immer und fortwährend auf einen „schönen Klang“, auf Farben, Stimmungen, deliziöseste Einzelheiten achten. Wie klänge im Haus, fragt sich der Rezensent, erst die Ouvertüre, wenn man sie in der Urfassung, also ohne dynamische Retuschen und ohne „Verklärungsschluss“, aufführte?
Nelsons setzt auf genaue Nachzeichnungen der Linien; die Tannhäuser-Ouvertüre wird, Stichwort „zelebriert“, vor den Ohren der Hörer geduldig ausgebreitet. Während der Aufführung klang sie, obwohl das Orchester im verdeckten Graben saß, viel erregender, was freilich auch am parallen Video liegen mochte. Das Tristan-Vorspiel kommt vielleicht ein wenig zu sehr adagio, um die Mitte zwischen Sehnsuchtsphrasen und geheimer Emphase zu finden, aber es hat einen schönen Mehrwert: wir hören einen geradezu impressionistischen Wagner. Wir nehmen plötzlich eine koloristische Dimension wahr, in der die einzelnen Phrasen sich blockweis überlagern, sich abwechseln und wie in einem Versuchslabor genau inspiziert werden. Wagner ist, qua Langsamkeit, plötzlich der Zeitgenosse von 1900, in dem sich die Farbe in der Musik von den melodischen Bewegungen emanzipierte. Ob dies der sog. wahre Wagner ist, sei dahingestellt; wenn Roger Norrington das Vorspiel dirigiert, klingt‘s ja auch völlig anders: wie ein langsamer Walzer, aber so ist eben Wagner: interpretierbar.
Und die Sänger? „Ich kann mich“, schrieb Wagner am 17. Dezember 1874 an seine spätere Brünnhilde, die Wienerin Amalie Materna, „nämlich unmöglich dazu entschließen, vor einem Konzert-Publikum dramatische Dialoge aufführen zu lassen, wogegen ich mit einem großen Monologe es bisher wagen zu können glaubte.“ Das Duett aus dem zweiten Tannhäuser-Akt ist eine Art dramatischer Dialog, auch wenn dem Komponisten noch die italienische Oper in den Knochen steckte. Klaus Florian Vogt ist ein sehr guter jugendlicher Tannhäuser – aber als Zurückkehrer aus Rom macht er vokal eine seltsame Figur. Stimmen sind immer Geschmackssache; wer Vogts weißen Tenor schätzt, wird auch in seiner Darstellung aus dem 3. Akt (mit eingelegter Papst-Persiflage) nichts Falsches, sondern, bei bewusster Verdunkelung des Klangs durch den Sänger, angenehm Erfrischendes finden. Wer seinen hellen Tenor mag, mag auch seinen Einsatz in „O sink hernieder“. Rein theoretisch ist sein extrem jugendlicher Ton gut geeignet für eine Rolle, unter der wir uns einen jungen Mann vorstellen können, aber schon der erste Tristan, Ludwig Schnorr von Carolsfeld, hatte eine schwere Heldentenor-Stimme, der Wagner ein Leben lang nachtrauerte. Zugegeben: Vogt hat, was Wagner seinem Lieblingstenor attestierte, ein „Bewusstsein vom richtigen Ausdrucke der Phrase“, aber sein heller Stimmklang bleibt Geschmackssache, zumal immer die Gefährdung der Überdeckung an hohen Stellen durch das Orchester besteht: selbst im lyrischen Duett. Da braucht es dann doch einen „schweren“ Tenor. Aber das Duett zwischen Tannhäuser und Elisabeth wird, das macht einfach die Frische seiner Stimme, zurecht bejubelt.
Seiner Stimme? Catherine Foster steht neben Vogt, sie kann ihren Sopran nun präsentieren, indem ihr landläufig genannter „Liebestod“ – Wagner bezeichnete den Schluss des Tristan immer als „Liebesverklärung“ – gänzlich frei ist von szenischen Zugaben. Gut so! Denn Miss Fosters Stimme kann sich mit ihrem satten, hellen, doch nicht schrillen Klang bis zuletzt hören lassen. Abzüglich ihrer Vokalisen, die manch Satz im Ungefähren versanden lassen, singt sie eine gelind brillante Senta-Ballade und ein Konzertfinale, bei dem man nicht an die größten Festspiel- und Opernsängerinnen der Vergangenheit denken muss, um ihm gerecht zu werden. Der Beifall für den Sänger, die Sängerin und die Musiker war jedenfalls so gewaltig, als hätten die Zuhörer kaum Vergleiche mit wirklich großen und, nun ja, authentischen Wagner-Interpretationen, aber, wie gesagt: Stimmen sind Geschmackssache. Und nicht allein der Konzertmeister machte seine Sache gut.
Frank Piontek, 1.9. 2022