Besuchte Aufführung: 28.8.2022 (Premiere: 3.8.2022)
Der Drache ist ein todgeweihter Greis im Krankenbett
Vorhang auf zum Scherzo. Mit dem Siegfried ging die von Valentin Schwarz (Inszenierung), Andrea Cozzi (Bühnenbild) und Andy Besuch (Kostüme) verantwortete Inszenierung in die dritte Runde. Insgesamt war die Aufnahme der Produktion durch das Publikum besser als erwartet. Nach dem ersten Aufzug füllten noch massive Protestkundgebungen seitens des Auditoriums den Raum. Diese nahmen aber bereits nach dem ungewöhnlich und total neu gestalteten zweiten Aufzug deutlich ab. Da gab es neben einigen Buhs sogar ein paar lautstarke Bravorufe – zu Recht. Und beim Schlussapplaus war kein einziges Buh mehr zu vernehmen. Das war durchaus nachzuvollziehen, denn hier hatten wir es mit großartigem, spannendem Musiktheater zu tun, das dem Regisseur alle Ehre machte. Der schlechte Ruf, der dieser Inszenierung vorauseilte, war gänzlich ungerechtfertigt. Schwarz‘ Regiearbeit präsentierte sich ausgesprochen kurzweilig, aufregend und von einer stringenten Personenregie geprägt. Langweilig wurde es wahrlich nie. Und das ist viel. Wer modernen Inszenierungen gegenüber aufgeschlossen ist, konnte an Schwarz‘ Regiearbeit seine helle Freude haben. Diese war vollauf gelungen!
Überzeugend war schon der Regieeinfall, dass der an Krücken gehende Mime augenscheinlich in Hundings verlassenem Domizil Wohnung genommen hat, und dass die Lichter wieder funktionieren. Mime scheint ein guter Elektriker zu sein. Jedenfalls hat er die Beleuchtung wieder auf Vordermann gebracht. Zu Beginn des ersten Aufzuges bereitet er Siegfrieds Geburtstagsfeier vor, die von Luftballons, Magie, Puppen und einem Kasperletheater dominiert wird. Leider hat der total betrunken heimkehrende Rüpel Siegfried überhaupt keine Lust, sein Wiegenfest zu feiern. Kurzerhand zerschlägt er die ihm von Mime geschenkte Spielzeugwaffe. An einem Poster mit leicht bekleideten Pin-up-Girls zeigt er dagegen mehr Interesse. Die werden von ihm neugierig begafft. Wanderer Wotan betritt in Begleitung seiner beiden Bodyguards – ursprünglich wohl die Raben – die Bühne und bringt ein weiteres Geburtstagsgeschenk für den Helden, der hier nicht sein Enkel, sondern sein Sohn ist. In einer Krücke befindet sich ein echtes Schwert. Mit diesem zerstört Siegfried bei den Schwert- und Schmiedeliedern schließlich die Scheinwelt, die Mime für ihn aufgebaut hat. Das war recht überzeugend.
Hervorragend gelungen ist Schwarz der zweite Aufzug. Seine Darstellung des Lindwurms war gänzlich neu und ungemein kurzweilig. Der Drache ist bei ihm ein seniler alter Tattergreis auf dem Sterbebett. Gepflegt wird er von dem jungen Hagen – er ist das im Rheingold an Fafner an Stelle des Rings übergebene und nun erwachsen gewordene Kind – und einer Pflegerin, die von dem Alten lüstern begrapscht wird und sich später als der Waldvogel entpuppt. Dieses hübsche Mädchen versucht Siegfried erfolglos anzumachen. Ein Kampf mit dem Wurm findet in Schwarz‘ Deutung nicht statt. Nachdem der junge Wälsung Fafner ungemein stark attackiert und damit im wahrsten Sinn des Wortes zu Tode erschreckt hat, stirbt der Alte an einem Herzinfarkt. Hier wird das einsame, hilflose Sterben eines verlassenen alten Mannes gezeigt, der die Konfrontation mit dem jungen, vitalen Siegfried nicht überlebt. Dieser und Hagen freunden sich im Folgenden an. Die Waldvogel-Pflegerin macht Siegfried auf den Schlagring in Fafners Tasche aufmerksam. Dieser hat an dem Ring jedoch überhaupt kein Interesse und drückt ihn Hagen in die Hand. Anschließend treffen sich Siegfried, der junge Hagen, die Waldvogel-Pflegerin und später auch Mime zu einem Saufgelage und frönen tüchtig dem Alkohol. Dieser tritt hier an die Stelle des Truggetränks, das Mime hier im ersten Aufzug gar nicht zu brauen brauchte. Je mehr Siegfried von dem hochgeistigen Stoff intus hat, desto besser versteht er sowohl die Waldvogel-Pflegerin als auch Mime. Schließlich ersticht der Held seinen Ziehvater mit dem Schwert – aber nur fast. Ein Streich mit Nothung hat zur Ermordung des Zwerges nicht ganz ausgereicht. Hagen bringt die Sache zu Ende und erdrosselt ihn schließlich ganz. Dann brechen die beiden neuen Freunde zusammen zum Walküren-Felsen auf. Die gelbe Baseballmütze, die Hagen zuvor an seine Kindheit erinnert hat, und die im ersten Aufzug bei Mime zu sehen war, wird zurückgelassen. Brünnhilde holt die Kappe, die wohl den Tarnhelm darstellen soll, später zurück. Diese ganzen Vorgänge wurden von Alberich beobachtet, der nach dem Ende der ersten Szene des zweiten Aufzuges auf der Bühne geblieben ist. Wieder einmal zeigte Schwarz sich hier versiert im Umgang mit Tschechow‘ schen Elementen.
Die von ihrer Familie verstoßene Erda hat sich im dritten Aufzug zu einer ausgemachten Pennerin entwickelt, die zusammen mit dem von ihr im Rheingold geretteten, nun ebenfalls erwachsen gewordenen Mädchen durch die Lande zieht. Noch einmal prallt sie mit Wotan zusammen und führt ihm haargenau dieselbe Inkonsequenz vor Augen, die ihm schon seine Gattin Fricka in der Walküre vorgeworfen hat. Einen Speer verweigert der Regisseur dem Göttervater auch hier wieder. Stattdessen ordnet er Wotan eine Pistole zu, die ihm von Siegfried und Hagen schließlich abgenommen wird. Brünnhilde liegt in dieser Inszenierung nicht in einem todesähnlichen Schlaf, sondern gefällt sich im Schlafwandeln. Warum nicht? Das kann man machen. Das hat man schon in Frank Hilbrichs Freiburger Interpretation des Siegfried so gesehen. Darüber hinaus scheint sich Brünnhilde gleich ihren Walküren-Schwestern im dritten Aufzug der Walküre einem Face-Lifting unterzogen zu haben. Jedenfalls ist ihr Kopf gänzlich verbunden. Schließlich nimmt Siegfried ihr die Bandagen ab. Die ehemalige Walküre gefällt ihm so gut, dass er infolge ihres Anblicks seinen Freund Hagen ganz vergisst. Das nimmt dieser ihm übel und macht sich kurzerhand mit dem Schlagring davon. In Grane, der hier erneut kein Pferd, sondern der Assistent und Liebhaber Brünnhildes ist, findet Siegfried im Kampf um die Gunst der ehemaligen Walküre einen beachtlichen Konkurrenten. Überaus heiter mutete die Szene an, in der die beiden sich um Brünnhilde stritten. Siegfried trägt in diesem vergnüglichen Gerangel den Sieg davon und fährt mit Brünnhilde in einer im Hintergrund geparkten, mit hellen Scheinwerfern versehenen Luxuslimousine schließlich davon. Und hier wartet Schwarz noch einmal mit einem echten Coup de Théatre auf: Kurzerhand identifiziert er Siegfried und Brünnhilde mit den bekannten amerikanischen Verbrechern Bonnie und Clyde. Ein romantisches Liebespaar sind sie in seiner Interpretation nicht. Die negative Entwicklung, die ihre Beziehung in der Götterdämmerung nehmen wird, erfährt hier bereits eine unmissverständliche Andeutung.
Leider kam es im ersten Aufzug einmal zu einer musikalischen Panne. Auf einmal stand die Musik still. Es brauchte einen Augenblick, bis sie wieder in Gang kam. Der Grund dafür war nicht ersichtlich. Trug Dirigent Cornelius Meister für diesen Faux-pas die Verantwortung? Man weiß es nicht. Tatsache ist, dass Meister sich bei dieser Aufführung in weit besserer Form zeigte als zwei Tage zuvor bei der Walküre. Der Siegfried lag ihm gut. Er animierte das bestens disponierte Festspielorchester zu einem intensiven, spannungsgeladenen und transparenten Spiel. An diesem gelungenen Abend hatte sein Dirigat viel Kraft und Schwung und zeichnete sich obendrein durch eine große Farbpallette aus. Zu laut wurde es im verdeckten Orchestergraben ebenfalls an keiner Stelle.
Auf hohem Niveau bewegten sich die gesanglichen Leistungen. Andreas Schager war ein darstellerisch ungemein eindringlicher Siegfried, dem er mit seiner bestens fokussierten, strahlkräftigen Tenorstimme auch stimmlich insgesamt voll gerecht wurde. Indes wären etwas mehr Differenzierung und auch mal leise Töne nicht schlecht gewesen. Leider misslang ihm am Ende der zweiten Szene des dritten Aufzuges einmal das hohe ‚b‘. Arnold Bezuyen machte dankenswerterweise aus dem Mime vokal keine Karikatur, sondern gab ihm mit sauber im Körper sitzendem Tenor stimmlich ein recht ordentliches Gepräge. Mit enormer stimmlicher Kraft stattete Tomasz Konieczny den Wanderer aus, den er auch ansprechend spielte. Einen profunden, bestens italienisch geschulten Prachtbariton brachte Olafur Sigurdarson für den Alberich mit. Fast zu schön für den Fafner klang der hervorragend gestützte, hell und edel timbrierte Bass Wilhelm Schwinghammer s. Der Erda gab Okka von der Damerau mit profundem, vorbildlich sitzendem Mezzosopran ein markantes Profil. Ein Lob gebührt Daniela Köhler in der Partie der Brünnhilde. Hier haben wir es mit einer jungen Sopranistin zu tun, die über eine in jeder Lage voll und rund klingende, dabei fein geführte dramatische Sopranstimme verfügt und zudem noch ein hohes Ausdruckspotential sowie sichere Spitzentöne aufweist. Man möchte sie gerne auch einmal in den anderen beiden Brünnhilde-Rollen hören. Durch einen tadellosen, stets sauber ansprechenden lyrischen Sopran zeichnete sich der Waldvogel von Alexandra Steiner aus. In dem stummen Rollen des jungen Hagen und Grane gefielen Branko Buchberger und Igor Schwab.
Ludwig Steinbach, 29.8.2022