Vivan und Ketan Bhatti
Uraufführung: 4. September 2022
Besuchte Aufführung: 11. September 2022
Auf der Suche dem passenden Opernstoff greifen zeitgenössische Komponisten gerne auf klassische oder aktuelle Dramen (Christian Josts „Egmont“ und „Die arabische Nacht“) oder Filme zurück (Ludger Vollmers „Lola rennt“ und „Gegen die Wand“). In den letzten Jahren werden auch verstärkt Romane als Opern auf die Bühne gebracht. 2019 kamen zum Beispiel die Fontane-Opern „Oceane“ (Detlev Glanert) und „Effi Briest“ (Siegfried Matthus) zur Uraufführung. Selbst vor ganz dicken Wälzern wie Jonathan Littells „Die Wohhgesinten (Hector Parra) oder Hans Falladas „Wolf unter Wölfen“ (Soren Nils Eichberg) schrecken Komponisten nicht zurück und machen daraus teilweise sogar beachtliches Musiktheater. Am Theater Bielefeld kamen jetzt die über 500 Romanseiten von Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ in der Vertonung der Brüder Vivan und Ketan Bhatti als dreistündige Oper auf die Bühne.
Librettistin Christiane Neudecker wird durch die Romanform der Vorlage zu zwei ungewöhnlichen Setzungen inspiriert: Alfred Döblin führt als Erzählerfigur selbst durch das Stück. Weil die Großstadt Berlin für die Librettistin selbst eine Akteurin ist, wird sie in Form eines gemischten Sprech- und Singchores aktiv, der die Geschichte Franz Biberkopf immer wieder kommentiert.
Dieser Ansatz des Kommentierens und Erzählens ist auf der einen Seite originell und prägt die Struktur und den Ablauf des Stückes entscheidend. Gleichzeitig hat man in der Aufführung oft das Gefühl, dass es besser wäre, die Geschichte ausschließlich über das Spiel und den Gesang der Hauptfiguren auf die Bühne zu bringen.
Neudecker konzentriert sich auf das Verhältnis des entlassenen Totschlägers Frans Biberkopf zu seiner Geliebten, der Prostituierten Mieze, und seinem Gangsterfreund Reinhold, der dafür verantwortlich ist, dass Franz seinen Arm verliert und später sogar Mieze ermordet.
Die Brüder Vivan und Ketan Bhatti, die regelmäßig gemeinsam komponieren, haben eine vielschichtige und abwechslungsreiche Musik mit geräuschhaften Orchesterklängen und atonalen und expessiven Ariosi geschrieben. Das Schlagwerk und die Bläser sind groß besetzt, sodass sie gegenüber den Streichern die Oberhand behalten. Vieles harmonisiert trotz des Stilmixes gut. Wenn dann aber auch noch elektronische Klänge auf dem Synthesizer eingespielt werden, ist dies ein ganz anderer Klangkosmos.
Es gibt viele wirkungsvolle Szenen, die spannend aus der Dramatik des Textes und der Geschichte entwickelt werden. Andererseits gibt es dann aber auch Abschnitte, in denen nichts passiert und die Intensität der Musik nachlässt. Dirigentin Anne Hinrichsen führt Sänger, Chor und Orchester sicher durch die komplexe Musik und lässt diese ganz natürlich fließen.
Manchmal hat man den Eindruck, mit dieser Oper wolle man Franz Biberkopf nach Bergs „Wozzeck“ und Rihms „Lenz“ als weiteren großen Schmerzensmann des Musiktheaters präsentieren. Die beiden genannten Opern konzentrieren die gesamte Geschichte aber auf gut 90 Minuten und sind damit wesentlich packender als das Dreistunden-Opus der Bhatti-Brüder.
Prägend für die Uraufführungs-Inszenierung ist das Bühnenbild von Okarina Peter und Timo Dentler, die vor allem die Untermaschinerie und die Podien nutzen, um den Boden zu gestalten und Personen auf- und abtauchen zu lassen. Gekachelte weiße Wände schaffen immer wieder Klinikatmosphäre. Regisseur Wolfgang Nägele erzählt die Geschichte mit glaubhaften Figuren auf die Bühne, wobei der Straftäter und Mitläufer Franz Biberkopf zu einer Figur wird, mit der man mitfühlen kann.
Evgueniy Alexiev, der die anspruchsvolle Hauptrolle singt, beeindruckt mit der Überzeugungskraft, mit der er den Biberkopf verkörpert und seinem kraftvollen und drahtigen Bariton. Mit elegantem Tenor singt Lorin Wey den schmierigen Gangster Reinhold. Mit selbstbewusstem Sopran singt Lou Denés die Mieze. Schauspieler Thomas Wolff gibt den Erzähler Alfred Döblin als klugen Analytiker.
Insgesamt ist diese Uraufführung ein bemerkenswerter Versuch einen der großen deutschen Romane des 20. Jahrhunderts auf die Opernbühne zu bringen, wobei die Dramaturgie des Werkes einige Schwächen aufweist.
Rudolf Hermes, 17.9.22