Bielefeld: „Egmont“

Christian Jost

Deutsche Erstaufführung: 29. April 2022

Besuchte Aufführung: 27. Mai 2022

Aribert Reimann ist unbestritten der Alt- und Großmeister der deutschen Gegenwartsoper, doch mit Detlev Glanert, Manfred Trojahn und Christian Jost hat sich eine mittlere Generation der Opernkomponisten etabliert, die regelmäßig hochkarätige neue Werke vorlegen, die von großen Häusern uraufgeführt werden. Christian Josts „Egmont“ wurde im Februar 2020 am Theater an der Wien uraufgeführt und kam nun am Theater Bielefeld zu deutschen Erstaufführung.

Eigentlich hatte Jost zum Beethoven-Jubiläum 2020 eine Oper über den Komponisten schreiben sollen, doch dann entschied er sich für einen Stoff, der Beethoven besonders am Herzen lag, hat der doch selbst eine Schauspielmusik zu Goethes Drama geschrieben. Der in Kleve aufgewachsene und in Berlin lebende Autor Christoph Klimke, der auch mehrfach mit Johann Kresnik gearbeitet hat, schrieb das Libretto, in dem er die Figuren aus Goethes Drama weiter verdichtet und zuspitzt: So wird aus Egmonts Geliebter Klärchen eine selbstbewusste und emanzipierte Klara. Die milde Regentin Margarete von Parma wird nun im Auftrag des Herzogs von Alba ermordet.

Christian Jost hat 90 Minuten höchst intensive Musik komponiert. Jede der 15 prägnanten Szenen hat zwar ihre eigene Charakteristik, aber insgesamt schreibt Jost eine Musik, die sich stets auf dem höchsten Spannungsniveau bewegt. In der klanglichen Stärke und der dunklen Dramatik der Klänge fühlt man sich oft an Werke György Ligetis oder Krzysztof Pendereckis aus den 60 Jahren erinnert. Ungewöhnliche Spieltechniken der Streicher und viel Schlagwerk lassen die Musik gefährlich brodeln und zucken. Generalmusikdirektor Alexander Kalajdzic koordiniert Josts großen Apparat eindrucksvoll.

Die Musik lässt nie Langeweile aufkommen und fesselt den Zuhörer. Jost komponiert hier so großformatig, als hätte er für ein Opernhaus mit den Dimensionen der Deutschen Oper Berlin oder der Bayerischen Staatsoper geschrieben. Die sechs Hauptfiguren sind genau gezeichnet, mit expressiven Melodien ausgestattet, und auch der Chor ist stark gefordert. In weit gespannten Ensemble und Chornummern lässt Jost hier sogar die Madrigal-Tradition durchschimmern, die während der Lebenszeit des historischen Egmont prägend für die europäische Musik war.

In der Titelrolle ist Alexander Kaimbach zu erleben, der in Bielefeld schon als Gustav von Aschenbach und Loge beeindruckt hat. Seine Mischung aus lyrischem und Charaktertenor kann er in dieser Partie sehr gut einsetzen. Mit biegsam schneidendem Bariton gestaltet Evgueniy Alexiev den machtgierigen Herzog Alba. Dusica Bijelic, welche als Klara besetzt ist, ist in der besuchten Vorstellung indisponiert und spielt ihre Rolle nur. Als Gast von der Oper Köln singt Emily Hindrichs die Partie. Da sie aber aus einer zurückgesetzten Seitenloge neben dem Orchestergraben singt, kann sie ihre Stimme nicht richtig zur Geltung bringen, wie man es von ihrer Kölner Auftritten in Zimmermanns „Die Soldaten“ kennt.

Iris Vermillion klingt als Margarete von Parma zu kehlig. Sehr beeindruckend sind Yoshiaki Kimura mit kräftigem Bass Margaretes bösen Sekretär Machiavelli. Mit der Partie von Albas Sohn Ferdinand hat Jost eine gelungene Hosenrolle komponiert, die von Marta Wryk klangvoll umgesetzt wird.

Die Regie von Nadja Loschky ist sehr werkdienlich und auf erfreuliche Weise unauffällig, weil sie die Figuren aus dem Geist der Musik heraus entwickelt. Der mit schwarzen Schleiern strukturierte Bühnenraum von Anna Schöttl entspricht der Düsternis von Josts Klängen.

Freunden der zeitgenössischen Oper wird ein Besuch in Bielefeld unbedingt empfohlen, denn hier ist eindrucksvoll zu erleben, wie zeitgenössisches Musiktheater funktionieren kann. „Egmont“ ist noch am 15. und 25. Juni zu sehen.

Rudolf Hermes, 30. Mai 2022