Premiere am 18.03.2017 besuchte Aufführung: 29.03.2017
Jekyll und Hyde in der Klinik
Hector Berlioz hat sein Werk „La Damnation de Faust“ („Fausts Verdammnis“) nicht für szenische Aufführungen konzipiert. Es ist eine Mischung aus Oratorium, Oper und Sinfonie mit Chor und Solisten. Berlioz hat die Szenen und Motive aus Goethes Drama, die ihn besonders ansprachen und inspirierten, zu einer Art Collage zusammengefügt, ohne dabei auf die Dramaturgie einer durchgehenden Handlung zu achten, wie es etwa Gounod in seiner „Faust“-Oper getan hat. Und er ging mit dem Stoff sehr frei um. Die erste Szene spielt in Ungarn – und das nur, um den effektvollen Ungarischen Marsch einfügen zu können. Auch das Ende wird zu Gunsten einer opulenten Höllenfahrt verändert: Méphistophélès führt Faust nach dem Pakt direkt in die Verdammnis.
Die Brüche in den locker aneinandergereihten Szenen dieser „Dramatischen Legende“, wie Berlioz sein Werk bezeichnet hat, nahm Regisseur Paul-Georg Dittrich zum Anlass für eine Art assoziatives Theater. Wer einen logischen Handlungsfaden für diese Inszenierung sucht, wird scheitern. Es sind die Bilder, die in Kombination mit der Musik ihre besondere Wirkung entfalten. Ein Steg führt vom Bühnenrand bis weit in den Zuschauerraum. Dort befindet sich Faust, der rastlos hin und her trippelt, gefangen in tiefster Depression. Dabei wird er von zwei Handkameras gefilmt und die Bilder werden auf eine Leinwand auf der Bühne projiziert. Eine ähnliche Anordnung hatte Benedikt von Peter bei „Mahler III“ entworfen. Auf der Leinwand sind auch Bilder von einem Flug über den Wolken, ein EKG oder bruchstückhafte Goethe-Zitate zu sehen.
Faust hängt am Sauerstoff-Tropf: Er trägt einen Behälter mit einem Bonsai-Bäumchen auf dem Rücken und wird so mit Sauerstoff versorgt. Nach seinem Selbstmordversuch wird er in einer Klinik behandelt. Das kommt hier einer rituellen Waschung gleich. Das Personal hält Schilder mit Aussagen wie „Die ganze Welt ist mir vergällt“ oder „Einzig mein Herz bleibt kalt“ in die Höhe. Überhaupt Klinik – in dieser Irrenanstalt scheint sich zunächst alles nur in Fausts Kopf abzuspielen. Méphistophélès ist dabei das Alter Ego von Faust, die dunkle Seite in seiner Psyche. Beide sind rothaarig und ganz in Weiß gekleidet. Es ist so wie bei Jekyll und Hyde. Auerbachs Keller gibt es nicht. Die Figur des Brander (kraftvoll Christoph Heinrich) mutiert hier zu einer knallbunten, skurrilen Putzfrau in der Klinik.
Die Bühne ist überwiegend mit weißen Laken verhängt und wird von kaltem Neonlicht geflutet. Die Ausstattung von Pia Dederichs und Lena Schmid verstärkt den Eindruck eines rituellen Mysterienspiels. Dazu gehört auch die Chorführung von Dittrich, der die Sängerinnen und Sänger mitunter auf den Seitengängen oder auf besagtem Steg auftreten lässt. Das erzeugt oft ein berückendes Klangerlebnis. Der Kinderchor tritt hier als koboldartige, dunkel gekleidete Schar von Zwergen auf, die der Welt des Méphistophélès angehören.
Marguerite im silbernen Latexanzug bewegt sich zunächst wie eine Schwester Olympias als roboterhafte Puppe, die an Blüten abzählend zupft. Ihre Liebe zu Faust und seine zu ihr ist nur imaginär. Beide kommen nicht zusammen, sondern projizieren ihre Gefühle nur auf das Bild des anderen. Eindrucksvoll sind die gelungenen Schattenspiele mit Requisiten wie etwa einem Spinnrad. Aber Dittrich arbeitet auch viel mit Videos und Projektionen, bei denen die Gefahr der Verselbstständigung nicht von der Hand zu weisen ist. Vieles ist arg verrätselt und vielleicht etwas überzogen. Aber immer finden die Brüche in der Musik ihre Entsprechung in der szenischen Umsetzung.
Musikalisch ist die Aufführung in jeder Phase beeindruckend gelungen. Markus Poschner hätte den Bremern vor seinem Wechsel nach Linz kein schöneres Abschiedsgeschenk machen können. Poschner lässt die Musik von Berlioz quasi von innen leuchten. Was er hier mit den Bremer Philharmonikern an Klangfarben, an Durchsichtigkeit und an ausgewogener Dynamik realisiert, ist der reinste Glücksfall. Die Schönheit und Größe dieses Werks – hier kann man sie erleben. Das gilt auch für die von Alice Meregaglia einstudierten Chöre, die bei ihrer umfangreichen und zentralen Aufgabe über sich selbst hinauswachsen.
Chris Lysack überzeugt als Faust mit rundem, klangschönem Tenor. Auch wenn im späteren Verlauf der Aufführung ein paar Töne etwas steif angesetzt werden, ist dies eine seiner besten Leistungen in Bremen. Claudio Otelli schöpft alle Möglichkeiten der Partie des Méphistophélès mit seinem markanten Bassbariton voll aus und überzeugt durch sein hintergründiges Spiel. Mit ihrer ausdruckvollen Stimme, die sich zu großer Leuchtkraft aufschwingt, ist Theresa Kronthaler eine ideale Marguerite.
Wolfgang Denker, 30.03.2017
Fotos von Jörg Landsberg