Premiere am 28.01.2017
Plädoyer für Humanismus
Der Roman „Der abenteuerliche Simplicissimus“ von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen ist ein Wälzer mit über sechshundert Seiten, die Oper „Simplicius Simplicissimus“ von Karl Amadeus Hartmann ist ein Werk von knapp anderthalb Stunden Spieldauer. Der Untertitel der Oper lautet „Drei Szenen aus seiner Jugend“ und erklärt, wie das zusammenpasst. Die Oper entstand 1934/35, nachdem der Dirigent Hermann Scherchen den Komponisten Hartmann bei einer nächtlichen Autofahrt auf den Stoff aufmerksam gemacht und auch gleich ein Szenario entworfen hatte. Das Werk wurde erst 1949 uraufgeführt. In Bremen wird die reduzierte Fassung von 1957 gespielt. Leider fehlt auch die lange, sehr reizvolle Ouvertüre.
Die erste Szene beschreibt das Leben im Dorf und die hereinbrechenden Schrecken des Dreißigjährigen Krieges. Dann trifft Simplicius auf einen Einsiedler, der ihn väterlich erzieht. Im dritten Teil kommt Simplicius an den Hof des Gouverneurs, der ihn zum Hofnarren ernennt. Als Narr kann er ungestraft die Wahrheit sprechen und sein Gleichnis vom Lebensbaum entwickeln, bei dem die Schwachen die ganze Last tragen. Gouverneur, Hauptmann und Landsknecht, die Symbolfiguren der Unterdrückung, werden am Schluss von den Bauern umgebracht. Nur Simplicius wird verschont.
Regisseurin Tatjana Gürbaca hat dieses Antikriegsstück in sehr eindrucksvoller Weise umgesetzt. Das Orchester sitzt in Parketthöhe, die Bühne von Klaus Grünberg besteht aus einer Holzwand mit einem kreisrunden Loch, in dem die Aktionen stattfinden. Darunter ist ein breiter Spalt, durch den man zunächst Wolkenkratzer und später Totenköpfe sieht. Im zweiten Teil erblickt man dann eine friedliche, hügelige Landschaft als Symbol für die Welt des Einsiedlers, am Ende schließlich die drei Leichen. Dieses einfache wie wirkungsvolle Bühnenbild ist sehr passend für das Werk, das ohnehin an das Brechtsche Theater anknüpft.
Bei der Umsetzung im ersten und dritten Teil bedient Gürbaca sich des Mittels der Groteske. Die Charaktere werden holzschnittartig gezeichnet, fast wie die Figuren eines Kaspertheaters. Nur Simplicius ist davon ausgenommen, er ist stets ein Mensch, wenn auch noch ein unwissend staunender. Ein Totentanz von skurrilen Gestalten steht für den Spuk des Krieges. Beim Bankett des Gouverneurs gibt es eine drastische Szene, bei der sich die Machthaber vor einer lasziven Tänzerin (Nora Ronge) zum Affen machen. Die ruhige Szene mit dem Einsiedler wirkt dazwischen wie eine Oase des Friedens, in der sich auch der Tod, nämlich der des Einsiedlers, im Einklang mit der Welt vollzieht.
Die Musik von Hartmann ist vielschichtig und spielt mit verschiedenen Anlehnungen, vor allem an Bach, Prokofjew oder Strawinsky. Beim Tod des Einsiedlers wird ein jüdisches Lied zitiert. Clemens Heil und die mit fünfzehn Musikern besetzten Bremer Philharmoniker setzen die stilistische Vielfalt der Partitur mit kammermusikalischer Delikatesse um. Besonders eindringlich gelingen die Zwischenspiele. Die teilweise im Publikum platzierten Choristen verstärken dabei mit ihren gesummten Passagen den Ausdruck tiefster Trauer. Ein musikalischer Moment, der unter die Haut geht, bei dem auch das auf die Wand projizierte Sonett „Tränen des Vaterlandes“ von Andreas Gryphius tiefe Wirkung erzielt.
Marysol Schalit ist ein Simplicius mit klarer, leuchtender Stimme und sehr guter Diktion. Ihre Darstellung macht die Entwicklung vom naiven Knaben zum klar sehenden Humanisten deutlich – ein moderner Parsifal, wenn man so will. Luis Olivares Sandoval vermittelt mit ebenmäßigem Tenor die Abgeklärtheit des Einsiedlers. Loren Lang gibt den Bauern stimmlich eher robust, Christian-Andreas Engelhardt (Gouverneur), Patrick Zielke (Hauptmann) und Birger Radde (Landsknecht) überzeugen mit praller Aktion. Engelhardt liegen die zwielichtigen Charaktere ohnehin besonders, und Zielke erweist sich einmal mehr als „Bühnentier“. Die Sprechrolle wird von einem Jungen (Max Geburek) eindringlich gestaltet. Das ist famos gelungen. Insgesamt ist diese hochkarätige Produktion sehr zu empfehlen, nicht zuletzt auch, weil sie ein überzeugendes Plädoyer für Humanismus und eine bessere, menschlichere Welt ist
Wolfgang Denker, 30.01.2017
Fotos von Jörg Landsberg