Mit psychologischem Einschlag
Besuchte Aufführung: 11.12.2014 (Premiere: 6.12.2014)
Die Mär vom Erwachsenwerden
Ein schönes Vorweihnachtsgeschenk hat sich das Landestheater Coburg mit seiner Neuproduktion von Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ selbst gemacht. Es war insgesamt ein gelungener Abend, der einerseits durchaus kindgerecht anmutete, andererseits aber auch Denkanstöße für innovative Gemüter bereithielt.
Dirk Mestmacher (Hexe), Valentin Fruntke (Hexengehilfe)
Die vom Tanztheater kommende Regisseurin Jean Renshaw, an deren Coburger Inszenierung von Donizettis „L’ elisir d’ amore“ von vergangener Spielzeit man sich noch gut erinnert, hat das Werk weder modernisiert noch dekonstruiert. Sie hat das Märchen ernst genommen und zusammen mit ihrem Bühnen- und Kostümbildner Christof Cremer in ästhetisch-schönen Bildern auf die Bühne des Landestheaters gebracht. Garniert wurde der ansprechende äußere Rahmen mit einem gut durchdachten und trefflich durchgezogenen geistigen Band. Ganz nebenbei wird von Frau Renshaw über das äußere Geschehen hinaus die Frage nach der allgemeinen Funktion von Märchen aufgeworfen, wobei sie das Ganze geschickt in psychoanalytische Tiefendimensionen abgleiten lässt. Für sie ist das Märchen nicht nur ein Märchen, sondern beredter Ausdruck der kindlichen Entwicklung bis hin zur vollen Reife. Der Focus liegt bei ihr dabei nicht auf äußeren, sondern auf inneren Prozessen.
Kora Pavelic (Hänsel), Gretel
Einfühlsam nimmt sie den Zuschauer bei der Hand und begleitet mit ihm Hänsel und Gretel auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden, wobei für sie in Anlehnung an die Märchendeutung C. G. Jungs die psychischen Vorgänge in den Kindern essentiell sind. Teilweise atmet ihre Inszenierung ausgemachten, krassen Realismus. Der in nüchterne Grautöne getauchte Bühnenraum des kärglichen Zuhauses der ebenfalls grau gekleideten Besenbinder-Familie unter einem schräg aufgerichteten Tisch, der sich mit Hilfe der Drehbühne um die eigene Achse drehen kann, ist als Sinnbild des ständig präsenten Hungers und damit des sozialen Elends der Protagonisten zu verstehen. Strenggenommen dreht sich hier alles nur um das Essen. Dieser Ansatzpunkt der Regisseurin ist zwar nicht mehr neu – Richard Jones ging an der Bayerischen Staatsoper ähnlich vor -, aber effektiv und ausgesprochen stückimmanent. Nachhaltig zeigt Frau Renshaw auf, wie in derart ärmlichen Verhältnissen Selbstsucht gedeiht, sich Aggressionen entwickeln können und Verhaltensweisen sich den Weg an die Oberfläche bahnen, die sich unter angenehmeren Lebensbedingungen wohl nicht in dieser radikalen Weise offenbart hätten. Das wird in erster Linie an der Figur der Gertrud aufgezeigt, die an sich eine gute Mutter sein will, sich aber aus purer Verzweiflung zu einer Strafmaßnahme gegenüber den Geschwistern hinreißen lässt, die sie später bitter bereut. Wenn dann auch noch die Hexe die vom Besenbinder mitgebrachten Lebensmittel stiehlt, scheint alle Hoffnung auf ein besseres Leben verloren. In der Pantomime am Ende des zweiten Aufzuges werden die Eltern nach einer erfolglosen Suche nach den Kindern verzweifelt am Tisch sitzend gezeigt, bevor die Szene wieder zu Hänsel und Gretel wechselt, die im Schlaf nicht etwa von vierzehn Engeln, sondern von einer gleichermaßen streng gekleideten Kinderschar besucht werden. Die Tristesse des Alltags verfolgt sie bis in ihre Träume. Ein Schicksal, das von vielen anderen Kindern geteilt wird.
Kora Pavelic (Hänsel), Gretel
Dass die Regisseurin hervorragend mit Tschechow’schen Elementen umzugehen versteht, wird bereits während des Vorspiels deutlich, wenn sie der als wahrer Struwelpeter gezeichneten, in grelles Pink gekleideten Transvestiten-Hexe schon hier einen Auftritt zubilligt. Begleitet wird sie von einem katzenartigen Diener mit schwarzer Melone, pinkfarbenem Hemd und dunkler Hose, der auch mal eine Maus verspeisen darf. Das Böse hat eben immer irgendwelche Gehilfen und auch auf der maliziösen Seite spielt Essen augenscheinlich eine große Rolle. Eine von den beiden mitgeführte Kiste mit der Aufschrift „100% Zauber“ lässt den Schluss zu, dass es sich hier lediglich um faulen Varietézauber handelt, obwohl die Hexe auch zweimal auf ihrem Besen durch die Luft sausen darf – das führt ein Statist aus -, beim zweiten Mal dabei aber vor lauter Übermut abstürzt. Entscheidend ist für Jean Renschaw aber nicht das durchaus erheiternde, oft recht komisch wirkende Gehabe der Hexe, sondern das, wofür sie steht. Von der psychologischen Warte aus betrachtet symbolisiert sie die mannigfaltigen Ängste der Kinder – diese werden zudem durch den stilisierten Wald versinnbildlicht -, ist also weniger realer als vielmehr seelischer Natur. Indem die Geschwister die Zauberin am Ende in den Ofen schieben, zu dem ihr Miniatur-Knusperhäuschen mutiert ist, befreien sie sich von ihrer Furcht und überschreiten so eine weitere wesentliche Schwelle auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Das macht jedes Kind einmal durch. Die allgemeine, für die Entwicklung notwendige Angst ist ein Stadium, das jeder durchläuft, sei es nun in der Vergangenheit, in der Gegenwart oder auch in der Zukunft. Das Prinzip bleibt dabei immer dasselbe, nur die Situationen ändern sich. Dementsprechend ist es nur konsequent, wenn die Hexe am Ende wieder auftaucht und bedrohlich über der Szene schwebt. Die Gefahr bleibt irgendwie bestehen. Das ist indes auch notwendig, denn ohne die Hexe wäre den Menschen eine existentielle Entwicklungsstufe genommen. Die müssen sie bewältigen, um ganz erwachsen zu werden. Das muss immer von neuem geschehen. Dieser Spagat zwischen schöner Märchenhandlung und innovativer Durchdringung des Stücks ist in hohem Maße gelungen.
Kora Pavelic (Hänsel), Dirk Mestmacher (Hexe), Gretel
Ana Czetkovic-Stojnik war mit frischem, aufgewecktem Spiel und solide gestütztem Sopran eine überzeugende Gretel. Rein vom Darstellerischen her war sie dem Hänsel von Kota Pavelic überlegen, die dafür vokal mit etwas fülligerem und tiefgründigerem Mezzosopran mehr punkten konnte. Eine ausgezeichnete Leistung erbrachte Jiri Rajnis, der einen sonoren, bestens fokussierten und ausdrucksstarken Bariton für den Besenbinder Peter mitbrachte. Als Gertrud verfiel Gabriela Künzler Gott sei Dank nicht in pures, grelles Keifen, wie es bei anderen Vertreterinnen dieser Rolle oft vorkommt, sondern wahrte stets eine gute Verankerung der Stimme im Körper. An dieser fehlte es dem ausgesprochen dünn und kopfig intonierenden Dirk Mestmacher in der Partie der Hexe voll und ganz. Schauspielerisch war der über eine ausgeprägte komödiantische Ader verfügende Tenor weit überzeugender. Ausgesprochen flach sang auch die häufig in den Orchesterfluten regelrecht untergehende Luise Hecht das Taumännchen. Da schnitt Emily Lorinis voll und rund vokalisierendes Sandmännchen erheblich besser ab. Den stummen Hexengehilfen gab der wendig spielende Statist Valentin Fruntke. Ordentlich präsentierte sich der von Daniela Pfaff-Lapins einstudierte Kinderchor.
Ensemble, Kinderchor, Statisterie
Am Pult wartete Anna Sophie-Brüning mit einem symphonischen, kompakten Zugriff in zügigen Tempi auf Humperdincks herrliche Musik auf. Hier haben wir es mit einer Theaterdirigentin zu tun, die einerseits die Wagner’schen Aspekte der Partitur trefflich betonte, andererseits aber auch für das Volksliedhafte und die vielfältigen Klangfarben ein gutes Gespür bewies. Manchmal hätte sie aber das versiert aufspielende Philharmonische Orchester Landestheater Coburg dynamisch etwas zurücknehmen können. Insbesondere Frau Hecht und Herrn Mestmacher hätten davon profitiert.
Ludwig Steinbach, 12.12.2014 Die Bilder stammen von Andrea Kremper