Besuchte Aufführung: 7. 3. 2014 (Premiere: 15. 2. 2014) 2. Kritik
Biederes Kammerspiel: eher belanglos
Die bis auf wenige leere Plätze ausverkauften Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt zeugten von dem großen Interesse, das seitens des Publikums an der Neuproduktion von Benjamin Brittens – letztes Jahr beging die Musikwelt seinen hundertsten Geburtstag – auf einem Libretto von Myfanwy Piper beruhender Oper „The Turn of the Screw“, zu Deutsch „Die Drehung der Schraube“, bestand. Dieses Werk scheint z. Z. hoch im Kurs zu stehen. Zahlreiche Opernhäuser haben es auf ihren Spielplan gesetzt.
Erzählt wird in Anlehnung an Henry James’ gleichnamige, 1898 erstmals veröffentlichte Schauernovelle in sequenzartigen Abschnitten die Geschichte einer jungen Gouvernante auf dem englischen Landsitz Bly. Ihre Aufgabe ist es, sich dort um die beiden verwaisten Kinder Miles und Flora zu kümmern, wobei die Haushälterin Mrs. Grose ihre einzige Unterstützung ist. Den Auftrag dazu hat sie von dem Onkel und Vormund der Kinder bekommen, in den sie sich verliebt hat. Dieser stellte aber die ausdrückliche Bedingung, dass sie ihn niemals kontaktiert und alle eventuell auftretenden Probleme allein bewältigt. Davon gibt es reichlich. Denn mit den Geistern der ehemaligen Gouvernante Miss Jessel und des alten Dieners Quint ist nicht gut Kirschen zu essen. Vehement versuchen sie, die Kinder auf ihre Seite zu ziehen, was die Gouvernante mit allen Kräften zu verhindern trachtet. Letztlich kann sie die Katastrophe aber doch nicht verhindern.
Samantha Paul (Flora), Anja Vincken (Miss Jessel)
Das Kammertheater stellte rein von seinem Raumcharakter her für die Aufführung eine gute Wahl dar. Das am linken Rand des Raumes durch transparente grüne Wandsegmente vom übrigen Raum abgegrenzte, verborgen sitzende Orchester besteht nur aus dreizehn Musikern, woraus zeitweilig ein recht intimer Charakter der Musik resultiert. So z. B. gleich zu Beginn, wenn der Prolog nur von einem Klavier sekundiert wird und der Focus demgemäß vorerst noch auf dem narrativen Element liegt. Konträr dazu stellt sich im weiteren Verlauf des Werkes schon auch mal der Charakter eines riesigen Orchesterapparates ein. Ätherische Stimmungen wechseln mit herrlichen Traumbildern. Aber nicht nur dieser Aspekt lässt die Partitur so interessant und vielschichtig erscheinen. Britten hat seine Oper symmetrisch in zwei Teile zu je acht Bildern aufgespalten, die durch fünfzehn Variationen voneinander abgetrennt sind. Trotz der Tatsache, dass das Hauptmotiv aus zwölf Tönen besteht, liegt hier keine Dodekaphonie vor. Der Komponist setzt nicht auf Zwölftontechnik, sondern auf Tonalität. Das Schraubenthema ist klar gegliedert. Es wird von sechs aufsteigenden Quartensprüngen gebildet, die durch abfallende Terzen miteinander verknüpft werden. Entsprechend der Schraubendrehung schrauben sich diese Quarten über sämtliche zwölf Töne immer höher. Es findet gleichsam eine musikalische Drehung der Schraube statt, wobei diese ständig zwischen den Tonarten der Gouvernante (A-dur) und Quint (As-dur) hin und her pendelt. Diese Spiralbewegung der Musik hat eine große Spannung zur Folge, die sich durch das gesamte Stück unter oft asynchronen Rhythmen zieht. Bereits am Anfang lässt Britten auf diese Art und Weise die beiden Gegner Gouvernante und Quint zueinander auf Konfrontationskurs gehen.
Susanne Serfling (Gouvernante), Samantha Gaul (Flora)
Aus diesem Aneinanderreiben von zwei Tonarten ergibt sich eine bitonale Struktur, die zu den Hauptcharakteristiken der Oper gehört und mit Fortschreiten der Handlung immer spürbarer wird. Miss Jessel bewegt sich vorwiegend zwischen den Paralleltonarten f-moll und As-dur – das in erster Linie in ihrem Duett mit der Gouvernante, die hier ebenfalls durch f-moll charakterisiert wird. Insgesamt sind Britten die musikalischen Zeichnungen der Figuren trefflich gelungen. Der Beginn ist noch gänzlich unbeschwert. Die Gouvernante wandelt bei ihrer Ankunft in Bly zwischen C-dur und D-dur. Zu diesem Zeitpunkt ist noch alles in bester Ordnung. Aber bereits beim Eintreffen des Briefes aus Miles’ Schule entsteht mit dem Einsetzen von a-moll erstmals eine musikalische Trübung. Die insbesondere im zweiten Teil erscheinende, Nacht, Düsternis und Tod versinnbildlichende Tonart es-moll nimmt den tragischen Ausgang des Werkes bereits voraus. Am Ende schließt sich der Kreis. Mit dem in A-dur komponierten Tod von Miles hat Britten wieder seine Ausgangstonart erreicht. Auffällig ist, dass die von ihm verwendeten Tonarten im ersten Akt durchweg aus Tönen der weißen Klaviertasten bestehen. Im zweiten, von den Geistern dominierten Aufzug prägen dann die schwarzen Tasten die Tonarten. Noch im reinen As-dur beginnend schrauben sich diese immer weiter nach unten, wobei sie stets darauf bedacht sind, b-moll zu erreichen, das einen ausgesprochen bösen Charakter hat. Diese Eintrübung ist gut nachzuvollziehen, denn die beiden Gespenster, die sich hier im Gegensatz zu James’ Novelle auch artikulieren können und einiges zu singen haben, gewinnen zunehmend die Oberhand. Der Kampf zweier entgegengesetzter Welten wird offenkundig. Hell und Dunkel, Gut und Böse ziehen in den Krieg gegeneinander. Klangfarblich wird die Grenze zwischen den beiden Bereichen durch die Quint zugeordnete Celesta gezogen. Dieses Instrument symbolisiert das zauberhaft Lockende dieser Figur. Die musikalische Dramaturgie kann man mit derjenigen von Mahlers Sechsten Symphonie vergleichen. Brittens Klangsprache wirkt in ihrer Gesamtheit reichlich suggestiv und schwermütig und entspricht der tristen Handlung voll und ganz. Bei Michael Cook und dem reduzierten Staatsorchester Darmstadt war Brittens Oper in guten Händen. Da wechselten sich imposante Ausbrüche des gesamten Klangapparates mit einfühlsamen Soli ab, wobei stets eine ausgeprägte Intensität der Tongebung gewahrt wurde.
Ein Problem der Kammerspiele ist die wenig befriedigende Akustik, mit der die Instrumentalisten zwar leidlich zurecht kamen, die sich auf der vokalen Ebene aber nicht sonderlich vorteilhaft auswirkte. In dieser Hinsicht dürfte weiter auch der Fakt, dass bei den Kammerspielen die Zuschauertribüne nahtlos in den Bühnenraum übergeht, eine Rolle spielen. Die schon oft bewährte Susanne Serfling, die in den vergangenen Jahren eine gute stimmtechnische Entwicklung durchgemacht hat, beeindruckte als Gouvernante mit guter Fokussierung und geradliniger Führung ihres jugendlich-dramatischen Soprans sowie einfühlsam-beherztem Spiel. Allerdings wurde insbesondere bei den ausladenden vokalen Höhenflügen deutlich, dass ihre Stimme für die Kammerspiele schon etwas zu groß ist. In Nichts nach stand ihr Anja Vincken, die mit kräftigem, ebenfalls bestens sitzendem und ausdrucksstarkem Sopran die Miss Jessel recht unheimlich sang. Tiefsinniges, tadelloses Mezzomaterial brachte Elisabeth Auerbach für die Mrs. Grose mit. Schon von ihrer sehr kleinen, zierlichen Statur her war die äußerlich stark an die Schauspielerin Sabine Menne erinnernde Aki Hashimoto eine Idealbesetzung für den Miles. Auch vokal wurde sie mit ihrem vorbildlich italienisch fundierten Sopran ihrer Rolle voll gerecht. Neben ihr fiel die relativ dünn singende Flora von Samantha Gaul ab. Auch der stark im Hals intonierende Lasse Penttinen als Prolog und Quint täte gut daran, seinen Tenor in den Körper zu bekommen. Gesungen wurde in Darmstadt eine von Constanze Backes erstellte, nicht gerade gelungene neue deutsche Textfassung. Dass die Oper nicht in der englischen Originalsprache gegeben wurde, stellte in stilistischer Hinsicht ein erhebliches Manko dar. Ein derartiges Abweichen von der ursprünglichen Diktion des Werkes hatte sich bereits bei der Coburger Produktion des Stückes in der vergangenen Spielzeit negativ ausgewirkt. Auf der anderen Seite hat das Darmstädter Ensemble in den durchweg vorzüglichen Coburger Sängern so im Notfall potentielle Einspringer zur Verfügung.
Susannah Gaul (Flora), Aki Hashimoto (Miles)
Die Deutungsmöglichkeiten der Handlung sind mannigfaltiger Natur. Man kann das Ganze als reine Gespenstergeschichte interpretieren, aber auch als Psychose der Gouvernante oder als Stück über Kindermissbrauch. Die insgesamt einen zwiespältigen Eindruck hinterlassende Inszenierung von Lothar Krause, für die Nora Johanna Gromer das Bühnenbild und die Kostüme beisteuerte, gibt darauf keine eindeutige Antwort. Der im zweiten Akt oftmals düster aus dem Boden aufsteigende Nebel mag für die Geistervariante sprechen. Der Fakt, dass sich die zu Beginn streng und adrett auftretende Gouvernante im Lauf des Stücks in immer stärkerem Maße zu einer reichlich verwirrten Frau mit unordentlicher Frisur entwickelt, die die Aussprache von Miss Jessel und Quint am Anfang des zweiten Teils nur träumt, deutet auf die psychoanalytische Auslegung. Die pädophile Erklärung kommt hier dagegen kaum in Betracht. In dieser Beziehung ließ es Krause bei spärlichen Andeutungen bewenden. Er lässt Vorsicht walten, dabei hätte seine Regiearbeit zu diesem Thema einen ganz radikalen aktuellen Bezug schaffen können. Krause gehört eben zu den jungen Regisseuren, deren Regiesprache weniger krass und provokant als vielmehr etwas schlichter und behäbiger Natur ist. Er geht auf Nummer Sicher, was ihm auf Dauer den Weg an die großen Bühnen verbauen könnte. Dabei sind einige seiner Ideen durchaus diskutabel. Gegen den Einfall, der Handlung als Vorgeschichte eine große Katastrophe vorangehen zu lassen, die die nur noch durch ein altes Photo merkbare Familienidylle samt deren Wohnraum zerstört hat – davon zeugt insbesondere ein in die Brüche gegangener Flügel -, ist nichts zu sagen. Dass ein derartiges Unglück einen Menschen an Rollstuhl und Krücken fesseln kann, ist gar keine Frage. Im konkreten Fall der hier noch ziemlich jung vorgeführten und lehrerinnenhaft wirkenden Haushälterin Mrs. Grose ging der Schuss aber nach hinten los. Trefflich ist dem Regisseur indes die erotische Zeichnung der Geister gelungen. Quint stellt gerne seinen entblößten Oberkörper zur Schau und Miss Jessel scheint unter ihrem transparenten Kleid und einem eine Schwangerschaft assoziierenden Theaterbauch – dass sie mit einem Kind im Leib von Quint sitzengelassen wurde, stellt einen einleuchtenden Grund für ihren Selbstmord dar – unten herum unbekleidet zu sein. Die Symbolik des anhand von Floras Puppe vorgeführten Voodoo-Zaubers mit dem anschließend an der Wand herabfließendem Blut war insoweit nicht überzeugend, als sich dieser ja nur auf das einzige Todesopfer des Stücks, Miles, beziehen konnte. Aber Flora hat doch überhaupt keinen Grund, ihren geliebten Bruder zu töten. Zwar wartet Krause durchaus mit einer im Lauf des Abends sogar noch etwas ansteigenden szenischen Spannungskurve auf, die im zweiten Akt ihren Höhepunkt erreicht. Als imposantes, unter die Haut gehendes Musiktheater kann man seine Inszenierung indes nicht bezeichnen. Dazu ist seine Herangehensweise an die Oper um einiges zu bieder und zudem manchmal auch etwas zu plakativ.
Ludwig Steinbach, 8. 3. 2014
Die Bilder stammen von Barbara Aumüller. Weitere Fotos weiter unten bei der Erstbesprechung