Faktisches „Hausverbot“ an der Pariser Oper auf Knopfdruck des Intendanten: Wir wurden durch Alexander Neef quasi mit Knopfdruck „gecancelt“ – nach 35 Jahren Akkreditierung an der Oper – wegen eines Satzes in einer Rezension, der ihm nicht gefiel.
Ist es nur ein banaler Vorgang der neuen „cancel culture“ oder eine Ironie des Schicksals? Der Vorfall wirft auf jeden Fall viele Fragen auf. Es fing an wie ein Weihnachtsmärchen: Am 24. Dezember veröffentlichte ich im Opernfreund und bei unserem Kooperationspartner Merker-online eine Rezension zu einer Aufführung, die mir so gut gefallen hatte, wie schon lange keine mehr an der Pariser Oper: Eine geschmackvolle Inszenierung, mit wunderbaren Sängern und einem fantastischen Dirigenten (hier kann man sie nachlesen). Zum „Fest der Versöhnung“ endete ich ausnahmsweise in einem Appell an unsere Leser und Kollegen mit einer sorgenvollen Beschreibung der neuen Formen von Gewalt, die sich im Rahmen der aus den USA importierten „cancel culture“ nun auch in der europäischen Musikszene breitmacht. Als Beispiel nannte ich einen Sänger in Paris, der wegen einer in den Social Media kritisierten Bühnenhandlung in kaum drei Wochen brutal gecancelt wurde (seine Sängerkarriere ist vorbei und er arbeitet nun anscheinend als Krankenpfleger in einem deutschen Krankenhaus). Die Redaktionsleitung des Opernfreunds fand diesen Absatz so wichtig, dass wir ihn eigens als einen „Kontrapunkt“ veröffentlicht haben (hier). Ich bekam viele Reaktionen, auch von Kollegen, die dieses „Plädoyer“ ihren Neujahrswünschen zugefügt haben – in der Hoffnung, dass unsere Kulturwelt im neuen Jahr 2023 weniger gewaltvoll werden möge.
Am 4. Januar bekam ich jedoch eine ganz andere Reaktion: Ein kurzer, förmlicher Brief der Kommunikationsdirektorin der Pariser Oper, die mir mitteilte, dass ein Satz in meiner Rezension „der Direktion“ [dem Intendanten] nicht gefallen hatte und dass ich deswegen nun nicht mehr als Journalist an der Oper akkreditiert bin. Nach immerhin 35 Jahren, wegen eines einzigen Satzes. Das wars.
Wie man so ein Problem heute löst…
Immer mit der Ruhe: Ich rief die Dame an und versuchte erst einmal den Sachverhalt zu klären: Ob sie denn den ganzen Artikel gelesen habe? – „Nein, ich spreche kein Deutsch“ (sowie übrigens niemand in der riesigen Kommunikationsabteilung der Pariser Oper). Wenigstens den Absatz, in dem er steht? – „Auch nicht…“. So habe ich ihr am Telefon den besagten Absatz übersetzt und den Aufbau des ganzen Artikels erklärt. Denn das wichtigste Wort in dem bemängelten Satz war Social Media. So konnten wir auf eine ruhige und professionelle Weise „das Missverständnis klären“. Sie meinte gleich zu Anfang: „Ich weiß genau: Sie sind ein sehr professioneller Journalist“, denn wir hatten schon vor vielen Jahren zusammengearbeitet als sie noch die Pressesprecherin im Kulturministerium in Paris war und ich damals mehrere Minister für den Focus interviewt hatte. Ich hatte seinerzeit eine für einen der Interviewten peinliche Situation dezent bewältigt und so verhindert, dass er öffentlich bloßgestellt wurde. Fast dreißig Jahre später erinnerte die Dame sich noch genau daran, und wir beendeten das Gespräch mit besorgten Kommentaren, wie unsere Arbeit nun immer schwieriger wird mit der stets komplizierteren „politically correctness“. Damit war der Vorfall für uns beendet.
Doch zehn Tage später bekam ich von der Pressedirektorin – es gibt an der Pariser Oper ein Dutzend Direktoren, von denen man oft nicht versteht, was sie eigentlich machen – eine kurze E-Mail-Nachricht: Sie müsse leider meinen schon zugesagten Presse-Platz zu der morgigen Premiere von Tristan und Isolde stornieren. Sehr peinlich und auch sehr problematisch. Denn so ein Journalisten-Canceln hat es an der Pariser Oper, zumindest schriftlich und wegen einer Rezension, noch nie gegeben (wie mir hausintern bestätigt wurde). Der einzige belegte Fall betrifft den Chefredakteur des größten französischen Opernwebsite Forum Opera Sylvain Fort, 2015 im Rahmen seines Protestes gegen den gesetzwidrigen Abbruch einiger Logen im Palais Garnier (die übrigens seit dieser Woche als luxuriöses Schlafzimmer auf Airbnb angeboten werden). Natürlich hat es Intendanten gegeben, die wütend ins Pressebüro stürmten und brüllten: „dieser Journalist kommt nicht mehr ans Haus!“. Doch kein Pressesprecher hatte bis jetzt gewagt, so eine Maßnahme auch umzusetzen, denn sie entspricht nicht dem „cahier de charges“ der Opéra National de Paris – immerhin das bei Weitem höchstsubventionierte Theater Frankreichs – und – das vor allem – nicht dem Pressegesetz. Die französischen Pressegesetze sind, wenn es Religion, Kirche, Karikatur und die allgemeine Meinungsfreiheit betrifft, mit die liberalsten in Europa. Dieser Aspekt wurde in den letzten Jahren noch verstärkt nach dem furchtbaren Attentat 2015 auf die Redaktion von Charlie Hebdo – kaum einen Kilometer entfernt von der Opéra Bastille. Schon alleine wegen der räumlichen Nähe sollte der Kommunikationsabteilung der Oper bewusst sein, was gesetzlich zulässig ist und was nicht. Doch inzwischen scheint man dies alles vergessen zu haben, und so musste ich den Damen ihr eigenes „cahier de charges“ und die an den Staatstheatern übliche Anwendung des Pressegesetzes erklären. „Danke!“ war ihre Antwort – denn das war offensichtlich neu für sie.
Doch auch mit Pädagogik und Diplomatie ließ sich das Problem nicht lösen. Auch nicht mit den im Journalismus gängigen Arten, eine Meinungsverschiedenheit zu bereinigen. Nachdem ich den Damen erst die gesamte Rezension ins Französische übersetzt hatte, damit sie schwarz auf weiß nachlesen konnten, was da überhaupt steht, bot ich die üblichen Lösungen an: Eine „Richtig-“ oder „Gegendarstellung“? Vielleicht ein persönliches „Statement“ von Alexander Neef? Denn er ist Deutscher, 1974 in Roßwälden/Ebersbach an der Fils geboren, und offensichtlich ein aufmerksamer Leser meiner/unserer Rezensionen. Keine Antwort… Im Endeffekt habe ich über einen Monat lang zehn Mails an acht Personen an der Oper geschrieben, sogar an Alexander Neef persönlich, in einem respektvollen und sehr freundlichen Ton. Denn – Ironie des Schicksals! – ich habe überhaupt nichts gegen ihn und habe ihn öfters, sogar noch am Anfang dieser schwierigen Spielzeit, ganz deutlich in Schutz genommen gegen persönliche Kritik, die ich als unfair empfand (hier). Auch von ihm keine Antwort. So geht das heute – und sicher nicht nur bei mir…
Resultat, so schreibt man heute eine Rezension an der Pariser Oper:
Unabhängig vom konkreten Fall: Was bedeutet dies, wenn man dort heute eine Rezension schreiben will? Man kann es ganz genau im Internet nachlesen: Die besagte Premiere von Tristan und Isolde war ein Fiasko. Nicht wegen der Inszenierung und auch nicht wegen des Dirigenten, sondern wegen der immer häufiger auftretenden Casting-Probleme. Die beiden Hauptdarsteller, Tristan und Isolde, wurden schon während der Vorstellung im zweiten Akt ausgebuht und der wunderschöne Liebestod Isoldes am Ende klang so: „Höchste Lust – Buh“ (die arme Sängerin!). Doch das konnte man nur in der ausländischen Presse lesen, denn meine Pariser Kollegen beschränkten sich in ihren Rezensionen auf diskrete Hinweise. Zum Beispiel, dass die Sängerin mehr ein „lyrischer“ als ein „dramatischer“ Sopran sei (das hört man schon auf dem Promotionsvideo der Oper – auf die anderen, hämischen Videos im Internet mache ich bewusst nicht aufmerksam – denn das ist auch eine Form von Gewalt). Andere Kollegen kamen in die Vorstellung, aber veröffentlichten danach keine Rezension „aus Rücksicht auf die Oper“ (wie sie mir offen gestanden). Das ist klare (Selbst-) Zensur, um nicht den sehr beladenen Begriff „vorbeugender Gehorsam“ zu benutzen. Ich persönlich bin zum Glück nicht betroffen, denn mein Chefredakteur schrieb mir: „Wollen Sie in alle Ewigkeit nur das schreiben, was dem Intendanten gefällt? Das ist die Lösung, die mir am wenigsten gefallen würde. Wir kämen auch ganz gut ohne die Pariser Oper aus!“. Da hat man es als Ausländer leichter. Doch meine Kollegen…?
„Sie konnten einander nicht verstehen: der eine sprach Kunst, der andere Geld“
Dieser letzte Absatz richtet sich direkt an meine Kollegen: Was vor einer Woche in Hannover mit unserer Kollegin Wiebke Hüster von der FAZ geschehen ist, wirft viele grundsätzliche Fragen auf. Darüber ist schon viel Besseres geschrieben worden, als ich es nun schreiben kann, aber eine Frage möchte ich doch in den Raum stellen: Haben wir vielleicht nicht alle eine „Mitschuld“ an dem, was nun passiert ist? Dadurch dass wir alle Warnzeichen wahrgenommen, aber nicht gleich in Frage gestellt haben und die Entwicklungen der letzten Jahre einfach so hingenommen haben? Die verbale Erklärung von Marco Goecke für seine widerliche Tat scheint mir in dieser Hinsicht aufschlussreich: Er drohte als Ballettdirektor der Staatsoper der Kritikerin „zunächst ein „Hausverbot“ an und warf ihr vor, für Abonnementskündigungen in Hannover verantwortlich zu sein“ (so die FAZ). Aber was ist das denn für ein Vorwurf von einem Choreografen? So etwas müsste doch – wenn schon – ein Marketing-Direktor denken/sagen. Oder? Dies fällt mir auf: Kunstkritik wird heute mit Marketingmaßstäben gemessen.
Früher gab es eine Presseabteilung und eine Marketingabteilung. Doch an den meisten Häusern lese ich nun „Presse & Marketing“, und was das bedeutet, habe ich in Paris ganz genau verfolgen können. Ursprünglich befand sich die Presseabteilung der Pariser Oper in der Abteilung „Dramaturgie“ – also an dem Ort, an dem über künstlerische Inhalte nachgedacht wurde. Dort produzierte man damals vorzügliche Programmhefte und ein gehaltvolles monatliches (Papier)Magazin, mit interessanten Interviews etc. Doch dann wurde die Abteilung Dramaturgie ein kleiner Unterteil von „Kommunikation und Marketing“. Das Papiermagazin wurde eingestellt und ersetzt durch digitale Kommunikation (wie an anderen Opernhäusern auch). Der intellektuelle Inhalt der Programmhefte sank so drastisch, dass sogar mehrfach das falsche Libretto abgedruckt wurde. Was dieser Wechsel konkret für eine Presseabteilung bedeutet, haben mir mehrere Pressesprecher in Paris genau beschrieben. Plötzlich erscheint eine neue Person im Büro: ein „Bewerter“. Dieser liest aufmerksam jeden erschienen Artikel und rechnet dann aus, was er gekostet hätte, wenn man stattdessen im gleichen Medium eine Anzeige platziert hätte oder einen „gesponsorten Artikel“ (für den bezahlt wurde). Am Ende des Jahres wird ausgerechnet, wie viel die Presseabteilung „verdient hat“. In einem guten Jahr war das 200.000 €. Doch im nächsten Jahr sollten das schon 250.000 € sein. Dann guckt man schon mal ganz genau auf einen Artikel, für den man eine „schlechte Note“ bekommen könnte (Negativrechnungen gibt es auch). Man „verhindert“ ihn lieber oder man „vergisst“, ihn dem Bewerter vorzulegen.
So ist die früher in Kunstkreisen übliche Wortwahl auffällig anders geworden. Denn nun wird mit Marketing-Terminologie kommuniziert, die oft in die Artikel und Rezensionen einfließt. Wie oft lese ich nun über Auslastung von Häusern und Besucherzahlen in Ausstellungen und Museen. Aber ist der Louvre nun wirklich das beste Museum der Welt, weil er vor der Pandemie die allerhöchsten Besucherzahlen erzielte (über 10 Millionen jährlich)? Nein, sagt deutlich die neue Direktorin, die die Anzahl Besucher in den Sälen nun drastisch drosseln will, damit man die Kunstwerke auch noch sehen kann. Ist eine Monet-Ausstellung im Grand Palais die beste, weil eine Million von Besuchern Stunden und manchmal sogar eine ganze Nacht im Regen Schlange stehen? Ist die Opéra Bastille mit 2.700 Plätzen deswegen „wichtiger“ als die Oper in Versailles mit „nur“ 700 Plätzen? Die Fragen sind nicht neu, aber unsere Antworten wohl. Jean Cocteau hatte vor einhundert Jahren ein treffendes Bonmot zu einer Diskussion von Diaghilev mit Geldgebern: « Ils ne pouvaiant pas se comprendre, l’un parlait art, l’autre argent » („Sie konnten einander nicht verstehen: der eine sprach Kunst, der Andere Geld“). In diese Geld- und Marketing-Geschichten haben wir uns als Kunstkritiker – vielleicht ohne es zu merken? – nun verstricken lassen.
Canceln hört sich für mich auch wie ein Begriff aus dem Marketing-Denken an. Dies scheint nun immer öfters mit Kunstkritikern zu passieren, ohne dass die Öffentlichkeit es mitkommt. Ich kannte nur einen einzigen Fall in Paris (2015 an der Opéra) und lese nun, dass es auch 2018 in Lausanne passiert ist – dem Kritiker von ResMusica wegen einer Rezension – und 2019 in Wiesbaden – einem Kollegen vom Opernfreund wegen einer Rezension. (In Lausanne wurde das Problem bis jetzt nicht gelöst, in Wiesbaden in wenigen Tagen nach der Veröffentlichung des Vorfalls). Aber es gibt sicher noch viel mehr Fälle, und diese sollten öffentlich diskutiert werden, damit es in Zukunft nicht mehr einfach so – per Knopfdruck – mit anderen Kollegen passiert.
Waldemar Kamer 20. Januar 2023